Allein in der Wildnis
weitere Vögel. Ein Kernbeißer singt graziös auf einem Ahornbaum, Rotschwänzchen flitzen durch die Fichten, Rauchschwalben machen über dem See ihre Sturzflüge, und Feuerkopf-Saftlecker trommeln auf süße, saftträchtige Birken. Heiß und verschwitzt zu Hause angelangt, gehe ich zu dem Schneehaufen, der sich, ein Meter hoch und doppelt so breit, unter dem Dach des Holzschuppens noch immer hält, und grabe aus dem verharschten Schnee eine eiskalte Flasche Bier aus. Ich nehme sie mit zur Lände, um mich in die Frühlingssonne zu setzen, auszuruhen und meine Vogelliste zu schreiben. Dreiundvierzig Spezies bisher! Und es werden noch mehr, wenn die Dämmerung kommt und die Vögel ihren Reviergesang wieder aufnehmen.
Im Abendzwielicht an diesem magischen Frühlingstag höre ich sie endlich: die Pieper. Das Wasser im Sumpf hat sich bis zu irgendeiner katalytischen Temperatur aufgewärmt, und ihr Frühlingschor hat begonnen. Lange sitze und lausche ich, sehe die Sonne hinter den sich begrünenden Berg sinken und spüre widerstreitende Emotionen des Glücks und der Trauer. Diese Vögel hatten auch gesungen, als ich das erste Mal den Fuß auf mein Land setzte und den Hüttenplan entwarf. Das war eine sehr streßreiche Zeit. Wenn ich diese Vögel höre, muß ich an Morgan denken, meinen ehemaligen Mann, an meine Scheidung und an den Umzug aus dem Hotel in die Hütte.
Aber dann fallen mir die guten Entwicklungen ein. Fünfmal haben seit jener trüben Zeit die Pieper im Frühling gesungen. Doch, ich habe inzwischen einiges geschafft. Ich habe mir ein Haus gebaut, viele nützliche Fähigkeiten angeeignet und gelernt, wie man ein Konto führt und die Einkommensteuer berechnet. Ich habe einen akademischen Grad erworben und mir eine berufliche Existenz aufgebaut. Ich verdiene mir selber die Brötchen, vielleicht nicht in althergebrachter Manier, aber auf eine Weise, die mir Unabhängigkeit gewährleistet, die gesund, interessant, manchmal auch riskant und ein bißchen heikel ist. Ich kann mir aussuchen, wen ich in die Hütte lasse und wen nicht. Und das will etwas heißen nach dem Leben im Hotel, wo mein »Heim« aus einem einzigen Zimmer (das an ausgebuchten Wochenenden an Gäste vergeben wurde) oder zeitweilig aus einer Matratze auf dem Dachboden bestand; wo manchmal verfrorene Wasserskiläufer in meiner Dusche standen und Kellnerinnen ungeduldig meine Schallplattensammlung durchwühlten.
Ein warmes Rinnsal hinter meinem Ohr unterbricht meine Gedanken. Blut! Was kann es sein? Habe ich mich im Wald irgendwo geschnitten? Dann komme ich darauf. Kriebelmücken! Es scheint zu früh, oder doch nicht? Jederzeit, nachdem der Schlingstrauch geblüht hat, können sie auftauchen. Mich hat anscheinend eine besonders gefräßige erwischt.
Die Kriebelmücken treten im Frühjahr überall in den Adirondacks auf und werden besonders in Sumpfgebieten zur Plage. Von Ende Mai bis in den Juni hinein können sie einem die Aktivitäten im Freien wochenlang vergällen. Die Kriebelmücke greift wie ein winziger Vampir an. Da ihr Speichel ein Betäubungsmittel enthält, ist der Biß fast schmerzlos. Nur das Weibchen saugt Blut, und auf der Suche nach einer Mahlzeit fliegt es bis zu sechzehn Kilometer weit. Die meisten Einheimischen entwickeln eine natürliche Immunität und spüren nur eine leichte Irritation; manche Menschen reagieren aber auf die Stiche hochallergisch und leiden unter Schwellungen, juckenden Quaddeln und sogar Atemnot. Ich selbst bin am Anfang der Mücken-Saison ein, zwei Tage etwas angeschlagen, habe geschwollene Halsdrüsen und Appetitmangel, aber das legt sich bald. Wie die meisten Ortsansässigen habe ich gegen die Plagegeister meine eigenen Abwehrtechniken. Miniröcke, T-Shirts, Hot Pants und Bikinis servieren der Mücke Menschenfleisch auf dem Präsentierteller, weshalb ich mich so anziehe, daß möglichst wenig Haut bloßliegt. Alle vier Stunden trage ich reichlich Insektenabschreckungsmittel auf und mache Reisigfeuer, wenn ich außerhalb der Hütte arbeite. An heißen, wolkigen Tagen bleibe ich drinnen oder erledige Außenarbeiten nur nachts, wenn die Mücken ruhen.
Für Forschung und Bekämpfung hat unser Bundesstaat Millionen aufgewandt. Jahrelang war DDT die Hauptwaffe. In raschfließende Gewässer, wo Kriebelmückenlarven an Steinen und untergetauchten Baumstämmen sitzen, wurden DDT-Blöcke versenkt. Mein Freund Rob pflegte im Staatsauftrag jahrelang jeweils sechs Wochen im Frühjahr in den Gewässern um Hawk Hill
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