Allein in der Wildnis
übliche Breitflügelbussard jagte über den dicken Gräsern, in die sich die Kleinsäuger duckten. Kreuz und quer über die Wiese liefen Hirschspuren. Neben einem Himbeerstrauch lag stark duftender Bärenkot. Fliegenschnäpper, Tyrannvögel, Stärlinge und Schwalben saßen auf den noch stehenden toten Bäumen. Die von den längst verschwundenen Bibern geschaffene Wiese beherbergte ein reiches Säugetier- und Vogelleben. Ich bemerkte Anzeichen, daß der Wald schon im Begriff war, die Wiese langsam zurückzuerobern. In Jahrzehnten, wahrscheinlich nach meiner Lebensspanne, würde diese Rückeroberung vollendet sein, der Kreis sich geschlossen haben.
Ich war fast zu Hause. Nur einen kleinen Sumpf mußte ich noch durchqueren und die Anhöhe zu meinem Balsamtannenwald hinaufsteigen. Tiefschwarz lag das Wasser wie ein Spiegel unter gelben Sumpfdotterblumen. Ihr Spiegelbild war makellos. Mit ein bißchen Phantasie sah ich einen japanischen Lacktisch mit gemalten Lotusblumen. Schmackhafte Elchnahrung würden diese Blumen abgeben. Wieder sehnte ich mich danach, die ungefüge Masse eines kehllappigen Elchbullen knietief in einem Adirondack-Weiher stehen zu sehen. Wie viele herrliche Tiere, überlegte ich mir, hatte der Mensch mit harter Hand in unseren Bergen ausgerottet: neben dem Elch den Wolf, den Luchs, den Berglöwen, den Vielfraß und den Weißkopf-Seeadler, das amerikanische Wappentier. Fischadler, Raben und Tauchervögel wurden stark dezimiert. Zu diesem Arten-Kahlschlag haben viele Umstände beigetragen, so etwa übermäßiges Fallenstellen, Jagd auf »Raubzeug«, das Prämiensystem, Insektizide, Vergiftung, Umweltverschmutzung, Störung durch Wanderer, Bootsfahrer, Jäger. Und jeder Verlust bedeutete eine Verarmung für unsere Wälder und Seen.
Ich kauerte mich ans Ufer, betrachtete die Blumen im Sumpf und suchte mir vorzustellen, wie mein Leben wäre, wenn auf den flachen Inselchen im Black Bear Lake Tauchervögel nisteten und mich morgens mit ihrem irren Lachen weckten; wenn nachts eine Großkatze hinter meiner Hütte fauchte; wenn ein Weißkopf-Seeadlerpärchen über meinem Boot vom Himmel herabkäme, um zu fischen, oder wenn im Winter Wolfsrudelspuren an meinem Wasserloch im Eis vorbeiführten. Um wieviel spannender und facettenreicher wäre meine Existenz und um wieviel ausgewogener das Ökosystem, gäbe es diese alteingesessenen Tiere hier noch.
Unzufrieden wandte ich mich von den Blumenspiegelbildern ab und tauchte in die Düsternis meiner Tannen ein. Ich hatte das starke und quälende Gefühl, daß die meisten Menschen sich immer noch vorm »bösen« Wolf fürchten, daß hundertpferdige Motorboote mehr geschätzt werden als lachende Tauchervögel, daß kreischende Rockmusik allemal besser gefällt als das Schreien von Wildkatzen bei Nacht.
Fast das einzige Tier, das in den Adirondacks an Zahl zunimmt, ist der Schwarzbär. Mit dem steigenden Touristenzustrom im Sommer und Herbst steigt auch das Nahrungsangebot für Bären. Fischer, Wanderer und Kampierer bringen Eßbares in den Wald. Auf den Müllhalden türmen sich schmackhafte Bissen. Ich habe sogar einmal gesehen, wie auf einem staatlichen Campingplatz ein cleverer Bär aus dem Wald hervorgeschlichen kam, brutzelnde Steaks von einem Grill stibitzte und sich anschließend noch an Kartoffelsalat gütlich tat.
»Bären gucken« ist im Sommer ein beliebter Zeitvertreib. Viele Menschen führen abends ihre Kinder und Besucher zu nahegelegenen Müllkippen. Zwanzig, dreißig Autos parken dann an der Halde, neugierige Besucherscharen mit Kameras spähen umher. So gespannt sind die Bärengucker, daß sie den Gestank verrottenden Mülls und das Summen von Millionen Fliegen ignorieren. Irgendwann ruft dann ein Kind: »Schau, Mutti, ein großer Bär!«
Dann ziehen sich die Menschen näher an ihre Autos zurück. Manche steigen ein und verriegeln die Tür. Andere, sträflich leichtsinnig, gehen auf den Bären zu. Kamerablitze zucken durch die Dämmerung. Der Bär — ein großes Männchen, mit fast bis zur Erde hängendem Bauch grollt drohend. Da verläßt auch die Burschen, die vor ihren Freundinnen angeben wollten, der Mut, und sie fliehen.
Daß ein Schwarzbär in den Adirondack-Mountains Menschen getötet oder schwer verwundet hat, ist bisher nicht aktenkundig geworden, wohl aber sind Menschen gebissen, gekratzt und bedroht worden. Jeden Sommer sage ich zu Rob: »Diesmal wird es an der Müllhalde irgendjemanden erwischen.« Die Bärengucker gehen so weit, dem
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