Allein in der Wildnis
Bären Süßigkeiten hinzuhalten, ihn zu umarmen (macht sich gut auf Fotos) oder ihn mit Büchsen zu bewerfen, damit er brüllt. Bei der Unberechenbarkeit sowohl der Bären als auch der Menschen ist es nur eine Frage der Zeit, bis es zum Schlimmsten kommt.
Nur mit Abscheu sehe ich unterdessen wilde Bären auf Müllkippen herumklettern, Wohlstandsrückstände fressen, fett und faul werden, Schmeißfliegen und gaffende Besucher tolerieren. Für mich verliert das Tier dadurch seine Würde, Wildheit und Selbständigkeit. Müllkippenbären sind auf dem Wege dazu, Bettler und Penner zu werden, so wie ein Thekenhocker auf dem Wege dazu ist, Alkoholiker zu werden.
Wenn die Städte und Gemeinden der Adirondacks die Abfallgruben, Halden, Campingplätze und sonstigen Orte, wo Menschen Nahrung hinbringen oder wegwerfen, strengeren Vorschriften und Kontrollen unterstellten, würden die Bären vielleicht zu ihrer natürlichen Rolle zurückkehren. Dann, und erst dann, gewännen sie ihren Adel zurück.
Inzwischen werde ich nach wilden Bären Ausschau halten. Dreimal nur habe ich im Wald welche getroffen. Am unvergeßlichsten bleibt mir eine Begegnung an einem kalten Wintermorgen. Auf Schneeschuhen wollte ich zu meinem kleinen Sumpf, um Fotos von frischverschneiten Balsamtannen zu machen. Unterwegs bot sich mir der seltsame Anblick eines um eine Tanne aufgehäuften Schneehügels, aus dessen Spitze eine dünne Dampfsäule quoll. Neugierig stapfte ich näher. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Plötzlich brach unter meinem linken Schneeschuh der Schnee ein, und eine Art Höhle öffnete sich. Mühsam am Rand dieses Iglus balancierend, blickte ich hinein. Es war sehr dunkel. Als sich meine Augen daran gewöhnt hatten, konnte ich am Boden der Höhle einen zusammengerollten Schwarzbären im Winterschlaf erkennen. Sein langsamer Atem kondensierte zu Dampf und stieg durch das Loch ins Freie. Behutsam zog ich mich zurück, damit der Bär nicht aufwachte und in schlechte Laune geriet. Dann drehte ich mich um und lief schnell zur Hütte.
Wenn ich als Wildtierliebhaber Wildtiere beobachte und über sie nachdenke, suche ich mir oft auszurechnen, welche Zukunft sie haben. Meiner Ansicht nach haben sie kaum Überlebenschancen, solange der Mensch um des Super-Luxus und Super-Wohlstands willen die Naturressourcen weiter so ausbeutet wie bisher. Wenn wir unseren Bedarf und Verbrauch an Energie und an Industriegütern weiter verdoppeln und verdreifachen, werden Staudämme, Talsperren, Hochspannungsleitungen, Kraftwerke, Tagebaue, Autobahnen, Supermärkte, Einkaufszentren und Neubaugebiete unaufhaltsam weiterwuchern. Und Wildtiere, Naturwälder, -seen, -böden und saubere Luft werden zurückgedrängt.
Das klingt pessimistisch, aber ich glaube wirklich nicht, daß der Mensch freiwillig seine materiellen Ansprüche und seinen Energieverbrauch zurückschrauben wird. Es ist ja so leicht und bequem, Maschinen die Arbeit tun zu lassen, sich mit Unterhaltung aus zweiter Hand berieseln zu lassen. Ich kenne nur ganz wenige Menschen — Naturfreunde, Tierliebhaber, Ökologen — , die wie ich gezielt und planmäßig ihr Leben spartanischer gemacht und sich in ihren materiellen Ansprüchen auf das Wesentliche beschränkt haben. So scheint es unausweichlich, daß Wildtiere nur an Orten wie dem Adirondack State Park, den Nationalparks und den übrigen Wald- und Tierschutzgebieten überleben werden.
Mehr als zehn Pferde wären nötig, um mich aus meiner Hütte am Black Bear Lake wegzubringen, um mich zum Verlassen der Adirondacks zu zwingen. Vielleicht gehe ich aber eines Tages freiwillig: an dem Tag nämlich, da ich keinen Streifenkauz mehr zu meinem Schlafzimmer rufen, keine Waschbären mehr aus der Küche kehren und keine Kojoten mehr in kalten Herbstnächten auf den Hügeln bellen hören kann, wenn blauschwarze Wolken quer über den Vollmond ziehen.
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Ein Mann im Haus
Wieder war es Herbst. Mein siebenter Herbst seit dem Bau der Hütte. Der Holzstoß wuchs, das Laub war gefallen, die Gänse zogen südwärts. Winter lag in der Luft. Er schien nicht mehr so strapaziös und beängstigend wie mein erster Winter, aber ein Gefühl des Alleinseins verließ mich nie.
An einem späten Freitag nachmittag fuhr ich ins Städtchen. Unterwegs, auf dem Bahnübergang, wo die Straße die alte Adirondack-Zweigstrecke der New York Central kreuzt, blieb ich stehen und blickte nach Westen. Die Sonne ging genau dort unter, wo die beiden Schienen in der
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