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Allein in der Wildnis

Allein in der Wildnis

Titel: Allein in der Wildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne LaBastille
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kunstgewerbliche Tradition«, fuhr ich unruhig fort, in der Hoffnung, ihn zu beschwichtigen. »Bis jetzt war die einzige einigende Kraft in den Adirondacks die Geographie.«
    Später am Tag fuhr Nick fort. Ich saß noch lange im Schaukelstuhl und grübelte über die schlechte Stimmung nach, die sich zwischen uns entwickelt hatte. Es war zu spüren, daß Nick sich über meine tiefe Bindung an die Hütte, an dieses Stück Land, an diese Berge ärgerte. Ich schaute zu, wie die Spätseptembersonne die Hüttenwände vergoldete, der mexikanischen Gitarre einen freundlichen Schimmer aufsetzte, zum Zedernfurnier der Decke hinaufleuchtete, den Kojotenpelz streichelte. Abgesehen vom Motorengeräusch unseres Flugzeuges war der ganze Tag still gewesen, und jetzt am Abend herrschte eine tiefere Lautlosigkeit als in einer alten europäischen Kathedrale. Die ganze Welt, durchtränkt vom heiligen Glühen dieses Sonnenuntergangs, schien »zum Himmel zu weisen«.
    Mir war zumute, als säße ich genau im Kern von irgend etwas. Von diesem Kern, von diesem stillen Hüttenraum, strahlten meine Gedanken wie goldenes Sonnenlicht in die Adirondacks aus. Ich konnte die Berge »fühlen«, ihre Gestalt, ihren Ursprung, ihre Festigkeit und Verläßlichkeit. Es waren trostreiche Berge, tiefverwurzelt und guterhalten. Sie neigten nicht zu Lava-Eruptionen, Erdrutschen, Erdbeben, Wirbelstürmen, Überschwemmungen, Dürren, Erosion. Es war, als lebte man mit Großeltern, auf die man immer zählen kann.
    Hier roch es nicht nach Schlamm, hier gab es nicht die Selbstzufriedenheit gleichmäßig gewellter Hügel, nicht die Monotonie von Weingärten und Milchfarmen, wie ich sie an den Finger Lakes südlich des Ontariosees erlebt hatte. Hier lag keine tropische Üppigkeit in der Luft, keine Langeweile platter Kiefernwälder, nicht die Ruhelosigkeit raschelnder Palmen und des Golfstroms, wie ich sie in Florida empfunden hatte. Und es gab auch nicht die Düfte von Indianerdörfern, die latente Bedrohung durch aktive Vulkane, das fremdartig verwirrende, pulsierende Leben wie in Guatemala; nicht den kitzelnden Wüstenstaub, nicht die Ödnis salbeibestandener Ebenen und knochentrockener Berge, nicht die Fremdheit, die ich angesichts von Stachelkakteen und Gila-Echsen in Arizona verspürt hatte. Von allen Orten, wo ich gelebt und gearbeitet hatte, bot keiner dieses Gefühl so starker Kontinuität wie die Adirondacks.
    Und Kontinuität war es, wonach ich mich sehnte. Ich wollte wissen, daß selbst dann noch, wenn ich einmal siebzig wäre, die Adirondacks die gleichen waren, der Black Bear Lake noch der gleiche. Daß ich an einem Septembermorgen noch zum See hinuntergehen und ein Bad nehmen konnte, immer noch Otter beobachten konnte, wie sie auf meinen Steinen Welse fraßen, immer noch einen Eimer sauberes Wasser zur Hütte hochtragen, immer noch den Regen von meinen großen alten Bäumen tropfen sehen konnte.
    Mit Bangen dachte ich daran, daß es dann vielleicht eine Ringstraße um den See geben könnte, Ballungen von neuen Hütten am Ufer, ein Chlorgerät an meiner Wasserleitung, eine Monorail-Bahn auf der Trasse der alten Adirondack-Linie, einen Flughafen in Lake Serene. Und vielleicht wären dann die Adirondacks nicht mehr das größte Reststück Wildnis westlich des Mississippi, sondern nur noch ein Weekend-Vorort für Utica, Albany, Montreal, Watertown und New York City.
    Die Sonne sank hinter den Berg jenseits des Black Bear Lake, aber ich blieb noch im Schaukelstuhl sitzen und dachte über die Krisen im Leben dieser Berge nach. Die erste Krise wurde durch den Holz-Raubbau und die Waldbrände der 1880er Jahre verursacht. Die erste Rettung erfolgte durch die Umwandlung der Staatswälder in ein Schutzgebiet und durch den Verfassungszusatz »Wildnis für ewige Zeiten«. Damals wie heute glaubten viele Leute: »Da wollen reiche Außenseiter herkommen und alles reglementieren.«
    Die zweite Krise hatte ihre Ursache im Aufkommen der Tourismus- und Freizeitindustrie. Mehr als neun Millionen Besucher jährlich kreuzten in den Bergen auf, und viele davon waren finanzkräftig, mobil und verfügten über reichliche Freizeit. Ein Zweitwohnungsboom erfaßte die Adirondacks. Die Bodenpreise schnellten in die Höhe. Riesige Areale wurden von Spekulanten und Baulöwen aufgekauft. Fünf von diesen Baulöwen allein wollten knapp dreihundert Quadratkilometer Bergland »erschließen«. Einer von ihnen plante eine Stadt mit dreißigtausend Einwohnern!
    Hier bahnte sich ein

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