Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu
Damm staute ihn zu einem See von drei Kilometern Länge. Als der Damm schließlich brach, hatte das gleich noch einmal vier große Erdrutsche zur Folge.
Wir erreichen die legendäre Erdrutschbahn an unserem vierten Tag in Tibet. Den Tag zuvor sind wir von Rawok aus zunächst gemütlich am postkartenblauen Rawok-See und dann am Parlung Tsangpo entlanggefahren. Weil sich hier die Straße dicht am Fluss hält, gibt es keine spektakulären Passstraßen mehr. Nur auf der linken Seite blinkten immer wieder schneebedeckte, über sechstausend Meter hohe Gipfel, hinter denen die indische Grenze liegt. Der dramatischste Zwischenfall auf der ansonsten undramatischen Fahrt ereignete sich dann kurz vor Kilometer viertausend. Ein Jeep lag kopfüber in einem Kiefernwald. Er hatte sich offensichtlich kurz zuvor auf gerader Strecke überschlagen und war dann in die Rabatten gerauscht. Zwar stand bereits ein Minibus an der Unfallstelle, trotzdem wollte ich, dass wir halten, um zu sehen, ob die Verunglückten Hilfe brauchten. Als Bart Dorje meinen Wunsch übersetzte, wurde der zum ersten Mal auf dieser Fahrt richtig aufbrausend. «Ich halte auf keinen Fall!», schimpfte der fromme Tibeter, der auf der ganzen Strecke immer wieder sogar für Spatzen gebremst hatte. «Sind die Leute verletzt, müssen wir sie mitnehmen. Sind sie es nicht, auch. Das gibt nur Ärger.» Also bretterten wir durch und erreichten schon am späteren Nachmittag die nicht sonderlich aufregende Stadt Bomi, wo auch übernachtet wurde.
Vor dem Great Landslide halten wir aber, und zwar genau vor einem Schild, das erklärt, inzwischen sei die Erdrutschsituation «basically under control», weil man die Abhänge an einigen Stellen befestigt habe. Doch selbst wir können problemlos erkennen, dass der Berg immer noch bröckelt. Ein Planierfahrzeug räumt gerade die frisch herabgerutschte Erde von der Straße. Trotzdem können wir die Erdrutschzone ohne Zwischenfälle passieren. Wäre es hier allerdings dicht gewesen, hätten wir vierhundert Kilometer zurückgemusst, um anschließend zu versuchen, Lhasa über die viel weitere und gefährlichere Nordroute zu erreichen.
So aber fahren wir weiter parallel zum halben Brahmaputra durch eine Landschaft, die jetzt einen subtropischen Eindruck macht. Es ist wärmer geworden, die Luft ist feucht, und die Fahrt geht durch lange, dunkle Tunnel, die von Bambussträuchern gebildet werden. Auch so hatte ich mir Tibet vor dieser Reise nicht vorgestellt. Auf der Strecke überholen wir mehrmals ausgemergelte und von der Sonne fast schwarz gebrannte Gestalten, die an den Händen hölzerne Flip-Flops und um den Bauch schwarze Leder-oder Gummischürzen tragen. Bei jedem dritten Schritt stürzen sie wie Fallsüchtige zu Boden, berühren ihn mit der Stirn, rappeln sich auf und stürzen drei Schritte weiter wieder. Es sind tibetische Pilger auf dem Weg in ihre heilige Stadt Lhasa. Manche von ihnen haben auf diese Weise schon Hunderte von Kilometern zurückgelegt, und etliche Kilometer liegen noch vor ihnen.
In Bayi kommen wir schon gegen Mittag an. Das heißt, ich habe wieder einmal mehr Zeit, mir einen Ort genauer anzusehen. Es lohnt sich kaum. Die Stadt, mit mehr als sechzigtausend Einwohnern die zweitgrößte Tibets, ist offenbar am Reißbrett entstanden. Entlang der viel zu großen Boulevards stehen langweilige moderne Reihenhäuser. Es gibt auch eine große Garnison, sodass es in den Straßen von Soldaten wimmelt. Doch die sind weit weniger spektakulär als die Tortensoldaten von Rawok. Das mag an der grundsätzlichen Bedeutung liegen, die diese Stadt für das chinesische Militär hat. Bayi heißt 1. August, und das ist das Gründungsdatum der Volksbefreiungsarmee im Jahr 1927. Zum Namen der Stadt passt, dass an jeder Straßenecke Schilder stehen, die die Bevölkerung dazu auffordern, Recht und Ordnung zu achten, auch wenn die englische Übersetzung ein wenig kryptisch ausfällt: «Strongthen the construction of legal system, manga city according to law.»
Ausgerechnet in dieser Stadt treffe ich auf die allerletzte Barriere vor Lhasa, über die allerdings nichts im Reiseführer steht. Sie ist höchstens 1,55 Meter hoch und dunkelblond, hat ein Mausgesicht, ziemlich große Brüste und steht völlig außer Atem plötzlich vor mir: «Gut, dass ich dich treffe», japst sie in hart akzentuiertem Englisch, «ich bin illegal hier. Kannst du mir helfen? Hast du eine Karte?» Vier Sätze, die ausreichen, um mir klarzumachen, dass ich dieses
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