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Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu

Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu

Titel: Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Y. Schmidt
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ersticken.
    Nach meinem letzten Zug beginnt Dorje sofort damit, den Jeep hinabzusteuern. Nach zwei Stunden auf der wohl größten Achterbahn der Welt haben wir glücklich die Sohle des Canyons erreicht. Hier fließt der Salween, noch einer der großen Ströme Asiens, rund zweitausendfünfhundert Kilometer weiter südlich mündet er an der Küste Myanmars in den Indischen Ozean. Anders als auf der Bergwiese in Westsichuan möchte ich hier niemals stranden. So heiß, trocken und vegetationslos wie dieser Canyon ist, so stelle ich mir höchstens noch das Tal des Todes in Nevada vor. Schon wieder Wilder Westen also.
    Gerade als ich anfange, mich zu entspannen, passiert dann doch noch etwas. Kurz nach der Überquerung des Salween über eine von Soldaten schwer bewachte Brücke gibt es einen Stau. Der Grund: Die Straße ist verschwunden. Eine Steilwand aus knochentrockenem Mergel ist abgebrochen und hat die 318 bei Kilometer 3764 mehrere Meter unter sich begraben. Wir und ungefähr zwanzig Busse, Laster und Minibusse können nicht weiter. Hat Dorje also doch nicht lange genug gebetet? Das kann man auch anders sehen. Wie es scheint, ist das Malheur vor einer halben Stunde passiert, denn der Berg rutscht immer noch ein bisschen. Wir könnten also auch genauso gut unter diesen Tonnen von Schutt begraben sein.
    So schlimm ist der Bergrutsch am Ende aber gar nicht. Kaum stehen wir im Stau, ist auch schon Militär da, das die Unglücksstelle sichert. Ein Soldat verspricht, eine Planierraupe sei unterwegs: «In zwei Stunden geht es weiter.» Außerdem muss ich gestehen, dass mir die Sache gar nicht ungelegen kommt. Ein Bergrutsch, dem ich knapp entkommen bin, fehlt mir noch in meiner Abenteuersammlung. Später kann ich damit angeben, wobei ich das Erlebnis sicher noch etwas ausschmücken werde. Schließlich bin ich der einzige Ausländer weit und breit, der Zeuge wurde.
    Doch da habe ich mich wohl zu früh gefreut. Kaum habe ich mir meine Heldengeschichte ausgemalt, stehen vier Männer neben mir an der Absperrung. Sie alle tragen Khakihosen mit vielen Taschen, Fotoapparate, Basecaps und lange Nasen. Ganz klar: Weiße, Europäer, Kaukasier. Meinesgleichen, jedenfalls äußerlich. Als ob das nicht hart genug wäre, deutet einer von ihnen auf die gerade eintreffende Planierraupe, macht den Mund auf und sagt in schönstem Hessisch: «Eins muss man den Chinesen lassen. Fix sind sie, selbst am Ende der Welt.» Ich bin sprachlos. Doch innerlich tobe ich: «Was habt ihr hier zu suchen? Das ist meine Straße. Haut bloß sofort wieder ab. Am besten, euch erwischt der nächste Steinschlag.»
    Leider nützen meine Verwünschungen nichts. Die vier Eindringlinge bleiben stehen wie festgenagelt. In der Zwischenzeit hat die Planierraupe den Bergrutsch weggeräumt, und es geht weiter, auch wenn der Berg an der Einsturzstelle immer noch bröckelt. Eine Stunde später sitzen Dorje, Bart und ich in einem kleinen Nest beim verspäteten Mittagessen. Kaum haben wir bestellt, geht die Restauranttür auf, und hereinspaziert kommen meine neuen Bekannten. Sie bringen sogar noch Verstärkung mit, denn insgesamt besteht die Gruppe aus zehn Leuten. Diese zehn sind nicht nur allesamt in einem fortgeschrittenen Alter – die Ältesten gehen sicher auf die siebzig zu –, es sind auch alles Ehepaare. Nun ist es nicht so, dass ich etwas gegen andere Deutsche im Ausland habe. In Wuhan habe ich mich zum Beispiel gerne mit ihnen getroffen. Aber das hier ist etwas anderes. Wofür mache ich diese Reise und nehme alle Entbehrungen, Demütigungen und Nahtoderlebnisse auf mich, wenn letztlich jedes Offenbacher Rentnerkaffeekränzchen so etwas von Deutschland aus buchen kann?
    Immerhin sind sie nicht auf meiner Route gekommen. Das erzählt mir ihr chinesischer Führer, der sich zu uns an den Tisch setzt. Die Gruppe ist in der südlich von Tibet gelegenen Provinz Yunnan losgefahren und erst seit zwei Tagen auf der 318 unterwegs. Trotzdem bin ich beunruhigt, denn bis Lhasa wird die Gruppe nicht nur auf meiner Straße reisen, sondern auch in denselben kleinen Städten übernachten. Dann werde ich mir wahrscheinlich jeden Tag Gespräche anhören müssen wie das, was gerade am Nebentisch läuft: «Pah, Bergrutsch. Wir waren letztes Jahr in Mozambique. Da liegen überall neben der Straße Minen. Das war wirklich gefährlich. Da konnte man nicht mal hinter einen Busch zum Austreten.»

    Den ganzen Nachmittag drückt mir die Anwesenheit der Deutschen aufs Gemüt, denn ich bin mir

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