Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu
Geschöpf jetzt erst einmal am Hals habe. Sie heißt lustigerweise fast genauso wie ich, nämlich Cristina, und als wir eine halbe Stunde später in der Lobby meines Hotels sitzen, kenne ich schon ihre Nationalität (Spanierin), ihr Alter, ihren Geburtstag – sie wird im Oktober einunddreißig – und die Kurzfassung ihres letzten Jahres. Es ist ein sehr aufregendes Jahr gewesen. Von Spanien ist sie nach Russland getrampt, und den letzten Winter verbrachte sie in der Mongolei in einer Jurte: «Da bin ich gelandet, weil mich ein Truckfahrer belästigt hat. Ich bin aus dem fahrenden LKW gesprungen und habe mir die Knöchel verletzt. Eine mongolische Familie hat mich gepflegt, und ich habe ihnen dafür beim Schlachten geholfen.» Als sie wieder laufen konnte und der Schnee getaut war, trampte sie weiter nach China. Sie war schon in Peking, Nanjing, Shanghai. «Und dann haben mich am Luguo-See in Yunnan zwei deutsche Jungs dazu überredet, nach Tibet zu trampen. Deshalb bin ich hier, aber ich weiß nicht genau, wo das eigentlich ist. Ich habe nur eine kleine Karte.»
Die kleine Karte ist die Übersichtskarte von ganz China in ihrem China-Reiseführer. Auf der kann man tatsächlich seinen Standort nur erahnen. Auf meiner großen Tibetkarte sieht Cristina zum ersten Mal, wo sie wirklich ist. Das ist eine echte Überraschung. «Wir sind ja gar nicht mehr so weit entfernt von Lhasa.» Damit hat sie recht, aber was ich mich frage: Wie ist die kleine Frau überhaupt so weit gekommen? Ohne Permit? «Ich wusste gar nicht, dass man so was braucht. Ich bin einfach losgefahren. In Tibet wollte ich dann in der ersten größeren Stadt hinter der Grenze in einem kleinen Hotel übernachten. Fünf Minuten später war die Polizei da.» Die haben nach Permits gefragt, und als Cristina keine vorweisen konnte, wollten sie sie sofort zurückschicken. Sie ist in Tränen ausgebrochen, und vermutlich weil es schon spät war und sie diesen Anblick nicht ertragen konnten, gaben die Polizisten nach. Sie quartierten die Spanierin allerdings in einem anderen Hotel ein, in der Nähe der Polizeistation, wo sie sich am nächsten Morgen melden sollte. «Sie haben mir sogar das Zimmer bezahlt. Es war total schmutzig, und die Wände waren so dünn, dass ich die Männer im Nachbarzimmer schnarchen hören konnte.»
Das ist genau die Art von Geschichte, wie ich sie aus diversen Tibetforen im Internet kenne. Solche Abenteuer sind auch der Grund, weshalb ich unbedingt legal nach Tibet reisen wollte. Andererseits: Ich hätte doch zu gerne die verblüfften Gesichter der Polizisten gesehen, als sie am nächsten Tag bemerken mussten, dass die Frau im Pippi-Langstrumpf-T-Shirt ausgeflogen war. Cristina meldete sich nämlich nicht auf der Wache, sondern stellte sich einfach wieder an die Straße. Ein Jeep hielt an, der chinesische Fahrer war auf dem Weg nach Lhasa. Die Strecke, für die wir fast vier Tage gebraucht hatten, bretterte er in gut anderthalb Tagen hinunter. Man übernachtete nur einmal in Zogang, doch es gab in dieser Nacht keine Kontrolle. Angehalten wurde der Wagen auf der ganzen Strecke nur ein einziges Mal. «Ich war sehr aufgeregt», gesteht Cristina, «aber der Polizist wollte nur den Führerschein des Fahrers sehen und hat sich um mich gar nicht gekümmert. Dann sind wir hierhergekommen. Als ich dich auf der Straße gesehen habe, bin ich sofort aus dem Wagen gesprungen und zu dir gelaufen, so schnell ich konnte.» – «Aber warum, um Gottes willen? Du warst doch praktisch schon in Lhasa.» – «Da will ich doch gar nicht hin!» – «Nicht? Wohin denn sonst?» – «Ich will in die Brahmaputraschlucht.»
Herrje, die Brahmaputraschlucht. Ich hatte über sie gelesen, als ich meine Reise vorbereitete. Es handelt sich dabei um den tiefsten und größten Flusscanyon des Planeten und zugleich um eine der verbotensten Ecken dieser Welt. Weil die Schlucht direkt an der umstrittenen Grenze zu Indien liegt, lässt die chinesische Regierung keine Fremden in die Gegend. Selbst Chinesen brauchen angeblich ein Permit für die Region. Als Ausländer ohne irgendeine Genehmigung auch nur in die Nähe der Schlucht zu gelangen ist praktisch unmöglich. Genauso gut könnte ein islamischer Terrorist bei der Einreise in die USA seinen Al-Qaida-Mitgliedsausweis vorlegen und erzählen, er würde gerne das Pentagon besuchen. «Außerdem hättest du», erkläre ich, «schon hundertfünfzig Kilometer früher aussteigen müssen. Die Straße, die der Schlucht am
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