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Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu

Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu

Titel: Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Y. Schmidt
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liegen die beiden Städte nur hundertneunzig Kilometer auseinander. Doch auch wenn wir nur knapp zwölf Stunden unterwegs waren, kommt es mir so vor, als wären wir zwei Tage gefahren. Oder besser noch: geritten, denn auch in Zogang werde ich das Gefühl nicht los, irgendwo im amerikanischen Westen gelandet zu sein. Die kleine Stadt mit höchstens achttausend Einwohnern hat man entlang der hier breiten und betonierten 318 gebaut, und an ihrem Eingang liegt ein großes Fort. Dort ist allerdings nicht die Kavallerie stationiert, sondern die Volksbefreiungsarmee. Zogang ist auch nicht besonders schön, bis auf einen schroffen Felsen, der in der Abendsonne leuchtet, während die Stadt, die er überragt, mit ihrer einzigen großen Straße schon längst im Dunkeln liegt. Hier steht ein verrotztes tibetisches Kind in einer offenen Garage auf einem Billardtisch und versucht, mit einem viel zu großen Queue die Kugel zu stoßen. Tibeter in Tracht rauchen vor ihren Läden, und vor mir auf dem Bürgersteig verblutet gerade ein Huhn, dem jemand den Kopf abgeschnitten hat.
    Dafür, dass die Stadt zu China gehört, ist es erstaunlich ruhig. Die Tibeter rufen mir nichts zu, nicht einmal «Tashi Delek». Sie scheinen mir sowieso distanzierter zu sein als die Chinesen. Die sind die Einzigen, die lärmen. Aus einem chinesischen Laden dröhnt laute Popmusik, ein Titel von Jay Chou, dem taiwanesischen Robbie Williams. Auch die chinesischen Mädchen benehmen sich, als lebten sie noch im warmen Sichuan, und trotzen den tibetischen Temperaturen in Miniröcken. Das sind alles Dinge, die dem Dalai Lama nicht gefallen, aber mir.
    Ich schaffe nur diesen kleinen Bummel durch die Stadt und gehe gleich nach dem Abendessen schlafen. Im Bett läuft noch einmal mein allererster Tag in Tibet vor meinem inneren Auge ab: die Einreise im Morgengrauen, die Überquerung zweier der größten Flüsse Asiens, der Geier auf der Straße, vier Pässe (oder waren es fünf?), zum ersten Mal im Leben über fünftausend Meter, zwei platte Reifen und Nahtoderlebnis Nummer drei. Gar nicht mal so übel. Ich wundere mich nur, wie einfach es am Ende war, so weit nach Tibet reinzufahren, ohne kontrolliert zu werden. Bis auf einen waren alle Schlagbäume an den Polizeistationen offen, und nie würdigte mich ein Polizist auch nur eines genaueren Blicks.
    Allerdings wäre wohl spätestens hier in Zogang Schluss für mich, hätte ich keinen Führer und keine Permits. Bart muss meine Anwesenheit und Übernachtung sofort nach unserer Ankunft bei der Polizei melden, die sich das Recht vorbehält, Ausländer jederzeit zu überprüfen. Heute macht man kurz vor zehn davon Gebrauch. Ich bin gerade dabei einzuschlafen, da klopft es an der Tür. Davor steht ein Mann in Uniform und fragt nach meinen Permits. Ich begreife allerdings nicht so ganz, was das soll. Schließlich müsste er doch wissen, dass meine Genehmigungen in der Hand meines Führers sind. Aber wahrscheinlich will er genau das von mir hören. Danach zieht er jedenfalls zufrieden ab.

    Mein zweiter Tag in Tibet wird noch eine Idee aufregender verlaufen als der erste. Das deutet sich am nächsten Morgen an. Dorje betet viel länger als gewöhnlich. Ich hatte schon in den letzten Tagen bemerkt, dass der Fahrer jedes Mal nach dem Losfahren leise für ein paar Minuten die Lippen bewegte, ohne dabei die Straße aus den Augen zu verlieren. Heute aber betet er mindestens fünfzehn Minuten. Dabei macht die Straße hinter Zogang überhaupt keinen schlechten Eindruck. Sie verläuft parallel zu einem ruhigen Fluss, der durch eine saftig grüne Landschaft fließt. Doch als wir nach ein paar Stunden Fahrt bei Kilometer 3709 den höchsten Punkt des Zar-Gama-La-Passes erreichen, ändert sich das Bild abrupt. Eine Serpentinenstraße, die alles bisher Gesehene in den Schatten stellt, führt von hier aus hinab in einen zweitausend Meter tiefen, knochentrockenen Canyon. Ich kann die langgezogenen Kurven nicht zählen, aber ich weiß, dass es sich bei dieser Passstraße um den gefährlichsten Streckenabschnitt der ganzen 318 handeln soll. Immer wieder stürzen Busse oder LKWs zu Tal oder werden von Erdrutschen begraben. Schon von hier oben kann ich erkennen, dass Teile der Straße von dicken Felsbrocken und Geröllbergen halb blockiert sind. Die Chancen, dass es einen auf diesem vierzig Kilometer langen Streckenabschnitt erwischt, stehen nicht schlecht. Ich zünde mir eine Zigarette an und denke: Besser erschlagen werden als

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