Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu
sicher, dass ich sie am Abend in der Stadt Rawok wiedertreffen werde. Rawok liegt an einem der schönsten Seen Tibets, hat aber nur drei Pensionen und zwei Restaurants, sodass man sich kaum aus dem Weg gehen kann. Als wir am Abend eines der beiden Lokale betreten, entdecke ich auch sofort meine Landsleute ganz hinten in dem langen Schlauch an einem großen runden Tisch. Ich will mich schon in mein Schicksal fügen, da sehe ich, dass die vermeintlichen Deutschen in Wirklichkeit ein Trupp chinesischer Soldaten sind. Ich bin sehr erleichtert. Noch schöner: Einer der Soldaten trägt eine goldene Papierkrone auf dem Kopf, die offensichtlich aus einem McDonald’s stammt. Das ist erstaunlich, denn die nächste Filiale ist mindestens tausendfünfhundert Kilometer entfernt.
Die Krone wird ein Geschenk sein, denn der Soldat feiert Geburtstag. Auf dem Tisch stehen zwei große Sahnetorten. Und kurz nachdem wir uns an einen anderen Tisch gesetzt haben, stehen seine Kameraden auch schon auf, um «Shengri Kuaile» zu singen, die chinesische Version von «Happy Birthday». Danach schneidet das Geburtstagskind die Torte an und gibt jedem seiner Gäste ein Stück auf einem Pappteller. Dann aber passiert etwas Unerwartetes. Ein Soldat nimmt sein Tortenstück in die Hand, stellt sich vor dem Geburtstagskind auf und drückt ihm das Sahnestück langsam ins Gesicht. Das ist das Signal für alle anderen, es ihm gleichzutun. Der Geburtstagssoldat bleibt allerdings nichts schuldig. Er greift mit einer Hand in die zweite Torte und klatscht die Sahne dem erstbesten Angreifer ins Gesicht. Bald kämpft jeder gegen jeden, und man verfolgt sich mit gezückten Tortenstücken durch das ganze Restaurant. Selbst als ein Vorgesetzter, erkennbar an den Schulterstücken, den Raum betritt, wird er nicht verschont. Die Zuschauer, die der Schlachtentwicklung interessiert folgen, stören die Kämpfer nicht im Geringsten. «Und, Bart», frage ich, «bereust du es manchmal, nicht zur Armee gegangen zu sein?»
Der hat keine rechte Meinung. Ich aber bin begeistert. Mir fällt eine Strafarbeit wieder ein, die ich vor mehr als drei Jahrzehnten als kleiner maoistischer Soldat bei der Bundeswehr verfassen musste, weil ich mal wieder beim «Innere Führung und Recht»-Unterricht gestört hatte. In diesem Papier pries ich wie schon im Unterricht die chinesische Volksbefreiungsarmee als eine ultrabasisdemokratische Veranstaltung, wo Rangunterschiede nicht viel gälten und von den Soldaten alle Befehle diskutiert und kritisiert werden könnten. Damals widerlegte mich mein Vorgesetzter, ein Hauptmann mit 68er-Hintergrund. Er kannte sich in den militärischen Schriften meines Idols besser aus als ich und widersprach mir Punkt für Punkt mit Mao-Zitaten. Doch hier im tibetischen Wilden Westen kann ich mit eigenen Augen sehen, dass ich damals wohl doch recht hatte.
Die Tortenschlacht endet erst, als auch die drei Kellnerinnen in das Scharmützel verwickelt werden sollen. Sie fliehen in eins der beiden Separees und schließen die Tür von innen ab. Einer der Soldaten versucht prompt, sie einzutreten. Da schreitet die Wirtin ein: «Jetzt ist Schluss», befiehlt sie. Die Soldaten gehorchen aufs Wort. Sie reinigen notdürftig ihre verschmierten Uniformen und ziehen dann lachend und bester Laune ab. Auch ich gehe nach dieser Einlage gut gelaunt schlafen. Die Deutschen tauchen nämlich aus rätselhaften Gründen nicht mehr auf, obwohl in diesem Dorf zehn Ausländer wirklich nicht zu übersehen sein können. Vielleicht hat jemand mein Flehen erhört …
Die Illegale
Dieses Kapitel knistert vor Erotik. Der Held kriegt einen trockenen Hals und Angst. Mehr, als ihm lieb ist.
Die letzte große Barriere vor Lhasa heißt 102 Great Landslide. Sie ist eine der berühmtesten Erdrutschzonen der Welt. Etliche Geologen bereits haben umfangreiche wissenschaftliche Abhandlungen über dieses Fleckchen Tibet geschrieben, weil die Erde nirgends so schön rutscht wie hier. Die 318 war seit 1991 auf diesem Abschnitt zehnmal blockiert, und das jeweils nicht nur für ein paar Stunden. Die kürzeste Blockade dauerte fünfzig Tage, die längste hundertneunundsiebzig. Einen Mega-Erdrutsch gab es im Juni 1996. Da sausten fünf Millionen Kubikmeter Erdreich zu Tal und rissen gleich mal einen halben Kilometer der Nationalstraße mit. Am Ende landeten die Erdmassen im Parlung Tsangpo, einem der beiden Quellflüsse des Brahmaputra und dem Fluss, der hier parallel zur 318 verläuft. Der so entstandene
Weitere Kostenlose Bücher