Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu
müssen eine Weile streiten, bis die Chefin kommt und den Fisch zurücknimmt. Das Hühnchen schmeckt mir dann sehr gut, aber während ich es verspeise, ist mir, als durchbohrten mich die fünf Kormorane mit ihren Blicken. Ich frage mich, was sie plötzlich gegen mich haben. Wahrscheinlich sind sie sauer, dass ich nicht den Fisch genommen habe.
Nach dem Essen sehe ich mir die Stadt genauer an. Und hey, vieles kenne ich wirklich schon aus M:i: III. Über diese dunklen Ziegeldächer lief Tom Cruise, dann sprang er auf diese Brücke und rannte unter diesem überdachten «Nebelregen-Korridor» am Kanal entlang, um seine Frau zu retten. Für diese Korridore ist Xitang berühmt. Die Legende sagt, dass einst ein Teehausbesitzer den ersten überdachten Korridor für einen Bettler, der vor seiner Türschwelle lag, aus Bambuszweigen improvisierte. Am nächsten Tag entpuppte sich der Penner als Unsterblicher und belohnte den Teehauswirt für die gute Tat: Das Teehaus brummte fortan nur so, und der Wirt wurde über die Maßen reich. Nur ein paar Äonen später wiederholt sich die Geschichte. Der unsterbliche Tom Cruise läuft einmal durch einen der langen Laubengänge, und zum Dank wird die ganze Stadt mit Geld überschüttet: Zehn Millionen Euro, erzählt die moderne Legende, soll Xitang für den Dreh bekommen haben. Dafür mussten sich die Xitanger allerdings die Umbenennung ihrer Stadt in Shanghai gefallen lassen. Und das ist nicht alles, was an M:i: III nicht stimmt. Die Xitanger zum Beispiel sehen in der Wirklichkeit ganz anders aus als im Film, und das, obwohl viele Einheimische als Statisten mitgewirkt haben. Im Film sitzen sie auf Brücken, in Booten und auf Bänken, stehen herum oder treiben Handel und tragen dabei alle ohne Ausnahme einen blauen Mao-Anzug. Tatsächlich aber wird dieses praktische Kleidungsstück in ganz China nur noch von sehr alten Menschen angezogen. Im heutigen Xitang trägt der Tourist viel geschmacklosere Sachen: Abercrombie-Radlerhosen, silberne Sneakers, DJ-Umhängetaschen, Cowboyhüte und geblümte Bermudas. Die Einheimischen gehen dagegen eher in Jeans, feuerroten Blusen, Kittelschürzen und Gummilatschen spazieren. Wie es Regisseur J. J. Abrams gelang, heutzutage noch so viele Mao-Anzüge aufzutreiben, ist mir ein Rätsel. Vielleicht hat er sie in Hollywood schneidern lassen und nach China exportiert.
Der größte Unterschied zwischen Fiktion und Wirklichkeit aber liegt im Benehmen der Leute auf der Straße. Im Film läuft Tom Cruise in einem Affenzahn durch die Stadt und schreit dabei die ganze Zeit irgendetwas Unverständliches. «Shanghais» Bewohner nehmen das Geschrei mit Erstaunen, aber durchweg schweigend zur Kenntnis. Im echten Xitang ist es umgekehrt. Ich gehe schweigend durch die Gassen, doch die Bewohner schreien mir ihren gesamten englischen Wortschatz entgegen: «Hello!», «Hello, hello!!», «Ha, ha, ha! Hello!!!», sobald ich nur um die Ecke biege. Das ist nicht weiter schlimm, denn es ist freundlich gemeint, auch wenn ich bei den besonders laut gebrüllten «Hellos» zusammenzucke.
Es gibt auch ruhigere Momente. Als ich mich an einer Brücke auf eine Bank setze, hören zwei ungefähr achtjährige Mädchen sofort mit ihrem Gummitwist auf, setzen sich neben mich und fangen an, mir Löcher in den Bauch zu fragen. Man kann sich wohl kaum reizendere, aufgewecktere Personen denken als chinesische Kinder, und es muss einen großen Spaß machen, sich mit ihnen zu unterhalten. Leider verstehe ich nur einen Teil der Fragen, und auf die kann ich meist keine Antwort geben. Ich sehe aber, dass eine der beiden wie hypnotisiert meine Arme betrachtet. Im nächsten Moment streckt sie ihre Hand aus und streicht sanft über meinen Arm, als sei ich ein seltenes Tier. Ich bin nicht völlig überrascht, denn ich weiß: Auf Asiaten übt die Körperbehaarung von uns Bleichgesichtern eine seltsame Faszination aus, und manche können dem Drang nicht widerstehen, sie wenigstens einmal im Leben anzufassen. Das erste Mal wurde ich so von einem kleinen Jungen im kambodschanischen Dschungel gestreichelt, beim zweiten Mal war es ein alter Mann im Westen Chinas, der neben mir in einem Sammeltaxi saß. Jedes Mal war ich perplex, wie wenig Scheu man in diesem Teil der Welt hat, den Körper eines Fremden zu berühren.
Am Abend sitze ich wieder zum Essen am Ufer. Die Gassen und Kanäle werden jetzt von roten Lampions beleuchtet, und auf dem schwarzen Wasser schwimmen kleine, weiße Schiffchen aus Papier, auf
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