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Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu

Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu

Titel: Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Y. Schmidt
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aufpassen: Die Tickets sind schnell weg.» – «Und ab wann ist die Kasse denn geöffnet?» – «Ab 9 Uhr 30.»
    Ich bin leicht genervt, weil ich heute keine Karten mehr für den nächsten Tag kaufen kann. Am nächsten Tag bin ich noch genervter. Kurz vor neun stelle ich mich ans Ende einer langen Schlange von Touristen, die vor dem Kassenhäuschen anstehen. Kurz nach neun löst sich diese Schlange plötzlich auf. Die Karten für morgen, so heißt es, sind schon wieder aus. Ich will das nicht glauben, doch vor der Kasse erzählt mir jetzt ein dicker tibetischer Wachmann: «Das Kontingent ist weg. Karten für übermorgen gibt es wieder morgen früh.» – «Wann genau morgen?», will ich es jetzt genauer wissen. Doch statt einer Antwort breitet er seine Arme zu einer Scheuchbewegung aus und herrscht mich und andere Herumstehende auf Chinesisch an: «Zou! Zou!» – Geht! Geht! Ich unterhalte mich mit einem französischen Pärchen, das auch leer ausgegangen ist. «Wir haben ab sieben hier gestanden. Bekannte von uns haben zweimal ab fünf gewartet und erst beim zweiten Mal Glück gehabt. Wer sichergehen will, stellt sich schon um Mitternacht an.»
    «Okay!», rufe ich voller Wut zum Wachmann rüber und fahre halb auf Englisch, halb auf Chinesisch fort. «Dann schaue ich mir den Palast eben nicht an, in dem eure feudalistisch regierenden Gottkönige jahrhundertelang residiert haben. Mei you yise. – Ist sowieso nicht interessant.» Das stimmt zwar nicht, denn der Potala ist, soweit ich das von außen beurteilen kann, tatsächlich ein imposanter Gebäudekomplex, der an Schönheit das meiste übertrifft, was ich in China an Architektur gesehen habe. Aber ich würde selbst für einen Flug zum Mond in einer Marzipanrakete nicht die halbe Nacht anstehen. Und wird nicht überhaupt das Besichtigen von sogenannten Sehenswürdigkeiten maßlos überschätzt?
    Auf jeden Fall habe ich nach der zweiten Abfuhr an der Potala-Kasse auch keine Lust mehr, mir noch irgendetwas anderes in Lhasa anzusehen. Ich bin inzwischen aber auch ein wenig eindruckssatt. Langsam ist es an der Zeit, dass ich meine Reise zu Ende bringe. Wenigstens in dieser Hinsicht geht es vorwärts. Am Nachmittag meldet sich ein Interessent für die Jeep-Tour, der erste, der wirklich in Frage kommt. Er ist Anfang zwanzig, ein junger Österreicher mit Reisevollbart und einem Ledercowboyhut auf den verstrubbelten Haaren. Er heißt zufällig auch Christian – seltsam, erst Cristina, jetzt ein Christian – und will genau wie ich möglichst ohne Umwege erst auf den Mount Everest und dann weiter nach Kathmandu. Gut gefällt mir auch, dass er ganz im Gegensatz zu mir noch vor Elan sprudelt. Der hat ihn sogar gestern in den Potala gebracht, und zwar – ich fasse es nicht – ohne einen Kuai Eintritt: «Die Karten waren ausverkauft, aber hinten war ein Tor für die Bauarbeiter offen. Da bin ich am Nachmittag rein. Ich habe mich immer im Schatten gehalten und mich manchmal eine Stunde lang unter einer Treppe oder hinter einem Mauervorsprung versteckt. Langsam bin ich immer höher gekommen, und am Abend, so gegen halb elf, war ich kurz vor dem Dach. Da haben sie mich dann erwischt.» – «Und?» – «Nichts und. Als sie merkten, dass ich nichts gestohlen habe, haben sie mich laufenlassen. Ich habe mich da oben gefühlt wie Heinrich Harrer in ‹Sieben Jahre in Tibet›. Mein Lieblingsfilm.»
    Auch wenn ich ein paar Vorbehalte gegen Harrer habe – wie viele deutsche und österreichische Tibetfans seiner Zeit war der Erzieher und spätere Freund des aktuellen Dalai Lama ein Nazi, Harrer war Mitglied sowohl in der NSDAP als auch in der SA und der SS –, so kann ich doch den aufgedrehten jungen Mann sehr gut für das Expeditionsteam gebrauchen. Gemeinsam gehen wir sofort zu König Dorje ins Banak Shol, um zu sehen, ob wir nicht dort gleich noch zwei Mitreisende auftreiben können. Doch als wir im F.I.T.-Büro stehen, hat der große Jeep-Magnat eine Hammernachricht für uns. «Das Everest Base Camp und die Grenze», sagt König Dorje und grinst jetzt wie ein Honigkuchenpferd, «sind seit heute Morgen geschlossen. Wir organisieren bis auf weiteres keine Fahrten mehr.» Ich brauche ein bisschen, um zu begreifen, was das heißt. «Wie, geschlossen?», frage ich. «Dicht. Es kommt keiner mehr ins Base Camp und auch keiner mehr aus China raus.» – «Und für wie lange?» – «Ich habe keine Ahnung. In der Vergangenheit ging so etwas schon mal ein paar Wochen.» – «Und wen

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