Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu
fernsehen. In einem Sketch gibt ein Mann einer Frau eine Backpfeife, dann knallt die Frau dem Mann eine. So was findet man in der ganzen Welt komisch, wahrscheinlich lachen bereits Schimpansen darüber. Im Fernsehstudio ist jedenfalls das Publikum vor Begeisterung außer sich.
Draußen tauchen die ersten großen, tiefgrünen Reisfelder auf, drinnen kommt die übliche Tibetnummer. Sie ist auch für Chinalaien leicht zu identifizieren, da Tibeterinnen in Fernsehshows immer rote Cowboyhüte tragen und Blusen mit Ärmeln, die bis zum Fußboden reichen. Außerdem quäken sie mehr, als dass sie singen. Danach stürmt ein dicker Sänger die Bühne. Er singt ein Medley chinesischer Hits, trinkt zum Schluss vor der Kamera eine ganze Maß Bier in einem Zug aus und verabschiedet sich vom Publikum mit einem lauten Rülpser. Exakt in diesem Moment fährt der Bus von der Autobahn ab, auf die Nationalstraße 318. Endlich bin ich wirklich auf meiner Straße, die hier vierspurig ausgebaut ist. Der Kilometerstein zeigt dreihundertzehn Kilometer bis Shanghai, das heißt, ich habe nur noch fünftausend Kilometer vor mir. Das Publikum im fernen Studio klappert erneut frenetisch Beifall.
An einem großen Kreisverkehr steigen fast alle Passagiere aus. Jetzt sind wir nur noch zu sechst: Fahrer, Schaffner, ein junger Mann, eine alte Bäuerin, ihr Huhn und ich. Im Fernsehen singt eine junge Frau das Fool’s-Garden-Stück «Lemon Tree» auf Chinesisch. Aus nicht erklärlichen Gründen ist hierzulande der Song der deutschen Band aus Möttlingen bei Böblingen bis heute ein Riesenhit; wahrscheinlich ist das Zitronenlied sogar der erfolgreichste deutsche Song der Welt, wenn man unter erfolgreich versteht, wie oft etwas gespielt wird. Die Sängerin ist gerade an der Stelle, in der es im Original heißt: «I’m driving around in my car/I’m driving too fast/I’m driving too far», da lese ich auf einem Torbogen über der Straße: «Welcome to Tongling». Moment mal, Tongling, das liegt fünfzig Kilometer weiter nördlich als Nanling, abseits meiner Straße. Verdammt, irgendwie habe ich geahnt, dass heute etwas schiefgehen wird.
Ich alarmiere den Schaffner und den Fahrer. Sie lassen sich mein Ticket zeigen und schauen sich erschrocken an. «Sollen wir zurückfahren?», fragt mich der Schaffner irritiert. «Komme ich denn auch», will ich wissen, «von Tongling aus zum Jiu-Hua-Berg?» Traurig schüttelt er den Kopf. «Heute nicht mehr. Aber morgen.» Das ist okay, denn auch von Nanling aus wäre ich heute sicher nicht mehr auf den Berg gekommen. Also, meinetwegen kann es auch Tongling sein, wo sich zehn Minuten später die einzige Schlepperin auf dem Busbahnhof über ihren unverhofften Fang ein Loch in den Bauch freut.
Es ist eine fünfzigjährige Frau mit einem gutmütigen, fast schwarz gebrannten Gesicht, die mich im Triumphmarsch zu dem führt, was sie ein «Hotel» nennt. Die umgebaute Wohnung im zweiten Stock eines grauen Plattenbaus macht allerdings mehr den Eindruck eines Obdachlosenasyls. Die Fenster sind vergittert, dafür stehen die Türen zu den Zimmern offen. Zwei Männer sitzen halbnackt auf ihren Betten und beäugen aufmerksam den Neuankömmling, dem Frau Schlepperin stolz das Bad und dann das Zimmer zeigt. Das Bad ist auf dem Flur, der Warmwasserboiler ist mit einem Vorhängeschloss gesichert. Das Bett besteht aus einer dünnen Bastmatte über einem Sperrholzbrett. Das einzige andere Möbelstück ist ein Tischchen, auf dem der Fernseher steht. Ihn krönt ein aus einer Coladose zurechtgeschnittener Aschenbecher. «Das Zimmer ist sehr gut», sage ich Frau Schlepperin. «Ich nehme es für fünfunddreißig Yuan.» Das sind zwar fünf Yuan weniger, als sie verlangt hat, dennoch schlägt sie freudig in den Handel ein.
Ich schlafe schlecht in dieser Nacht auf meinem Brettbett, und am nächsten Morgen bin ich erkältet. Glücklicherweise ist es zum Busbahnhof nicht weit. Vier Stunden später reißt ein uniformierter Parkwächter am Eingangstor von Jiu Hua Shan mein Ticket ab. Dieser Name bedeutet Neunblütenberg, was ein bisschen irreführend ist, denn es handelt sich eher um ein mittleres Gebirge als um einen Berg. Der Name wurde ihm von Li Bai verliehen, einem der berühmtesten chinesischen Dichter, der in den neun höchsten Gipfeln des Massivs die neun Blätter einer Lotosblüte erkannte. Doch um das zu sehen, muss man wohl Chinese sein. Ich sehe nur einen Talkessel, der von hohen Bergen umgeben ist, über die sich Kiefern-und
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