Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu
anderem: «No making noise and quarreling, obey the order and stand in line, no talking loudly in public places.» Doch meine Ansprache scheitert an dem inzwischen bereits wohlbekannten Problem. Ich spreche kaum Chinesisch.
Erst als alle Alten etwas auf ihrem Teller haben, kehrt Ruhe ein. Jetzt sitzen sie schweigend an den Tischen und schaufeln verbissen das Essen in sich rein. Endlich kann auch ich mich an die Durchreiche wagen. Danach will ich mich an einen der Tische setzen. Mürrisch macht man Platz und zählt mir dann neidisch jeden Bissen in den Mund, obwohl ich doch nichts anderes esse als alle anderen. Das sind also die treuesten Anhängerinnen dieser angeblich so friedlichen Religion, die predigt, die weltlichen Begierden zu überwinden? Nein, ich glaube, der chinesische Buddhismus ist wirklich nichts für mich.
Die Himmelsterrasse, auf der ich eine halbe Stunde später stehe, ist allerdings sehr schön. Und weil der Furienstoßtrupp irgendwohin verschwunden ist, geht es auch friedlich zu. Vor dem Tempel der zehntausend Buddhas schläft ein Mann auf Reissäcken, die für die hier lebenden Mönche gespendet wurden. Paprika-, Bohnen-und Auberginenhaufen türmen sich neben ihm. Im Tempel spielt ein hagerer Mönch mit einem Soldaten chinesisches Schach. Noch schöner ist der Blick von der Himmelsterrasse. Unter mir breiten sich dunkelgrüne Kiefernwälder aus, dazwischen verteilt hellgrüne Bambusinseln, in den Tälern Wolkenseen und Klosterfestungen. Aus der Distanz betrachtet macht diese Buddhistenrepublik keinen schlechten Eindruck.
Doch dann nimmt der Wind wieder zu und treibt große Wolkenklumpen gegen den Gipfel, die kurz vor der Terrasse zu kleinen Fetzen zerreißen. Regentropfen vermischen sich mit herumfliegender Asche aus dem Räucherwerkverbrennungsofen und zerplatzen auf meinem Kopf. Ich flüchte in den Tempel, wo ein dicker Mönch inmitten der zehntausend kleinen goldenen Buddhas sitzt und Sonnenblumenkerne aus einer Tonschüssel klaubt, um sie dann mit den Zähnen zu knacken. Als er mich im Eingang stehen sieht, erhebt er sich bedächtig und kommt im Watschelgang langsam auf mich zu. Ziemlich genau einen Meter vor mir bleibt er stehen und starrt mir in die Augen. «Ni hao» – Guten Tag, sage ich, weil mir nichts anderes einfällt. Der Mönch sagt gar nichts, starrt aber weiter für unendliche Minuten. Dann macht er auf dem Absatz kehrt, um sich wieder dem Vertilgen von Sonnenblumenkernen zuzuwenden. Was war das? Während ich noch über dieser Frage grübele, betreten zwei in beige Kutten gekleidete Pilger den Tempel. Sie knien vor dem Altar dreier in rote Umhänge gehüllter Buddhas nieder. Der Watschelmönch schlägt derweil mit einem Klöppel gegen eine metallene Schüssel, was schön mystisch klingen würde, wenn nicht laute Maschinengewehrsalven dazwischenknattern würden. Sie kommen aus einer kleinen Stube hinter dem Altar, wo offensichtlich ein paar Novizen einen buddhistischen Actionknaller sehen. Ich gehe zum Devotionalienstand des Tempels und gucke, ob es solche Filme vielleicht auch auf DVD gibt. Doch man führt nur die üblichen Buddhagimmicks: gelbe Schals und Pilgertaschen, Stoffherzen, Schmetterlinge und Schriftzeichenamulette mit langen roten Quasten dran. Ich will mich schon zum Gehen wenden, da erspähe ich etwas aus dem Augenwinkel, das mich kurz erstarren lässt. Wie selbstverständlich hängen nämlich zwischen dem ganzen Zeugs an die dreißig, vierzig Amulette, die das leuchtende Antlitz des Großen Vorsitzenden Mao zeigen.
Ich rufe nach dem Mönch. Er ist gerade dabei, für Pilger eine Art Checkliste mit dem Siegel des Tempels zu stempeln; ein Beweis dafür, dass sie hier oben ihr Pensum weggebetet haben. Danach kommt er zu mir hergewackelt. Ich würde ihn gerne fragen, was der Buddhismus mit Mao zu tun hat und wozu das Amulett gut ist. Weil das aber nicht geht, kaufe ich es mir bloß. Auf der Rückseite des goldfarbenen Teils ist ein Sportwagencabrio abgebildet. Mein verehrter Mao fungiert im buddhistischen Götterhimmel offenbar als eine Art Porsche-Bodhisattwa. Aber dann ist vielleicht der maoistische Buddhismus doch meine Religion? Mein neues Amulett erweist sich jedenfalls als sehr wirkungsmächtig. Bei der Talfahrt schwankt die Seilbahngondel nicht mal mehr ein kleines bisschen, und statt einer heiseren Flüsterstimme kommt aus den Lautsprechern die gepfiffene Version von «Auld Lang Syne». Sogar das Pärchen, das mir gegenübersitzt, würde sich küssen, wenn ich
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