Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu
geschrumpft sein muss. Mönche in safrangelben Roben hauen auf Zimbeln und Becken und singen leiernd heilige Sutras. Dazu rutschen fünf Frauen und drei Männer auf Knien um Wuxias Altar herum. Anscheinend Profirutscher, denn sie tragen Knieschützer, die sie sich aus alten Hosen zurechtgeschnitten haben. Zugleich schmeißt unten auf der Terrasse ein Trupp Mönche große Haufen Krepppapier in drei Verbrennungstöpfe. Dichter schwarzer Rauch steigt auf, dann lodern helle Flammen. Nach dem Ritual setzen sich die Rutscher auf eine kleine Mauer und binden sich die Knieschützer ab. Eine Frau erzählt ihrer Freundin vergnügt, wie toll die Rutscherei war. Das klingt, als sei sie auf der Kirmes gerade aus dem Kettenkarussell gestiegen. Eine andere Dame liegt derweil mit dem Gesicht über einem kleinen runden Loch im Boden. Als sie wieder hochkommt, fragt ihr Mann: «Und? Was ist da unten?» – «Luft», sagt die Frau ernsthaft. «Luft», wiederholt der Mann und lacht sich schlapp. Das muss ich auch ausprobieren, und ich lege meinen Kopf auf das Loch. Tatsächlich schlägt mir aus einem dunklen Schacht nichts als Muff und Moder entgegen. Ich atme diesen Duft ein paar Minuten ein und tauche wieder auf. Neben mir steht ein junges Mädchen, das mich anstrahlt. «Welcome to China!», sagt sie und drückt mir etwas in die Hand: «This is for you.» Es ist eine Fotozelle an einem Bändchen; fällt Licht darauf, blinkt darin rhythmisch ein Bodhisattwa. Völlig überrascht und auch ein wenig gerührt bedanke ich mich bei ihr. Dann lasse ich die kleine Scheußlichkeit unauffällig in meiner Hosentasche verschwinden.
Solche Nippes kann man unten im Pilgerdorf kaufen, wo sich hinter dem Buddhismus-Hotel ein Buddha-Shop an den anderen reiht: Hier gibt es die dicke Räucherwerkmunition, verpackt in Goldpapier und Zellophan, außerdem Plastikbuddhas, wundertätige Amulette, rote, lotosförmige Nachttischlampen, billige Rekorder, die blechern immer wieder dasselbe Mantra spielen, aber auch Spülbürsten, Matrjoschka-Puppen, Fächer aus Pfauenfedern, Höllengeld und Bodhisattwa-Seife. Die großen neuen Tempel, die gleich nebenan gebaut werden, unterscheiden sich in ihrer Machart kaum von diesem Kitsch. Sie sind fast komplett aus Stahlbeton errichtet, der anschließend mit ein paar angepappten Holzbalken und grellen Farben kaschiert wird. Auch die Gesichtszüge der bombastischen goldenen Buddhas, an denen im Inneren der Tempel noch gewerkelt wird, sind so glatt und übertrieben süßlich, als seien sie als Kulissen für ein Buddha-Musical am Broadway oder in Las Vegas gedacht.
Die Zukunft, so verspricht ein Hochglanzprospekt, der in den Tempeln ausliegt, soll noch kitschiger werden. Die Buddhistische Gesellschaft von Jiu Hua Shan baut an einer vergoldeten Kupferstatue eines Bodhisattwa, die neunundneunzig Meter hoch werden soll. Diese, so glaubt man, sei dann die weltgrößte vergoldete Kupferstatue eines Bodhisattwa. Auf einer Computergrafik, die die Zukunft zeigt, kann man sehen, dass die Statue das in Jahrhunderten gewachsene Ensemble mit ihren Proportionen erschlagen wird. Ich entscheide kurzerhand, dass ich mich dieser Karnevalsreligion mit ihren vergoldeten Leichen, ihren Rumrutsch-und Schnüffelritualen, der haarsträubenden Luftverschmutzung durch die Räucherwerkverbrennungsöfen, den Fotozellen-Bodhisattwas und allem sonstigen Zinnober nicht anschließen werde. Und ich frage mich, ob Mao Tse-tung nicht vielleicht doch recht gehabt hatte, als er während der Kulturrevolution die Chinesen dazu anhielt, mit diesem ganzen Krempel aufzuräumen.
An dieser Stelle ist es Zeit für ein kleines Geständnis: Als ich vor ein paar Jahren überraschend meine Frau kennenlernte, war das nicht mein erster Kontakt zur chinesischen Welt. Viel früher gab es schon mal eine Phase, in der ich unbedingt Chinese werden wollte. Damals, als ich zwischen fünfzehn und neunzehn war, bin ich ein glühender Maoist gewesen. Es gab dafür verschiedene Gründe; der wichtigste war wohl meine Begeisterung für die Kulturrevolution in China. Besonders gut fand ich, dass Mao mit dem Satz «Rebellion ist gerechtfertigt» die Jugendlichen Chinas ermuntert hatte, gegen alles Alte im Land und alle, die älter waren als sie selbst, aufzubegehren. Die jungen Chinesen ließen sich das nicht zweimal sagen. Als Rote Garden stellten sie das ganze Land auf den Kopf. Sie gingen sogar gegen alte, bourgeoise Sofas vor, die sie auf die Straße zerrten und für ihre
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