Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu
reaktionäre Existenz bestraften. Damals wurde auch eine neue revolutionäre Straßenverkehrsordnung erlassen, die bestimmte, dass an einer Ampel künftig bei Rot zu fahren sei, bei Grün aber anzuhalten.
Am allerbesten gefiel mir, wie mit den Lehrern umgesprungen wurde. Schüler, die in meinem Alter waren, durften sie kritisieren, beschimpfen, ihnen spitze Schandhüte aus Papier auf den Kopf setzen und sie so durch die Stadt treiben. Ich träumte davon, das auch mit meinen Lehrern zu machen, besonders mit Herrn K., dem Deutschlehrer, und Herrn L., Altgriechisch und Latein. Natürlich wusste ich damals noch nichts von Prügelexzessen und Morden, zu denen es während der Kulturrevolution auch kam, und wahrscheinlich hätte ich auch nichts davon wissen wollen. Ich war in einem Alter, in dem man ein Recht auf eine gewisse Blödheit hat. Und niemand kam auf die Idee, mir mal das Programm der Pekinger Roten Garden von 1966 unter die Nase zu halten, in dem es unter anderem hieß: «Die Verbreitung von Fotografien von sogenannten hübschen Mädchen soll eingestellt werden.»
Vielleicht wäre dann schon damals meine Einstellung zur Kulturrevolution differenzierter ausgefallen. Heute ist sie das natürlich. Meistens zumindest. «Zerschlagt das Alte! Nieder mit dem Aberglauben! Weg mit der weltgrößten vergoldeten Kupferstatue eines Bodhisattwa!», rufe ich am Abend einem Mönch zu, der mir auf der Straße entgegenkommt. Gut, ich murmele es mehr vor mich hin und außerdem auf Deutsch, aber jede Revolution hat einmal klein angefangen, oder um es mit den Worten Mao Tse-tungs zu sagen: «Aus einem Funken kann ein Steppenbrand werden.»
Oder auch nicht. Zumindest nicht, wenn es so regnet wie am nächsten Tag. Offenbar hat Buddha meine kulturrevolutionären Gedanken gelesen und will mir jetzt mal zeigen, was eine Harke ist. Außerdem habe ich leichtes Fieber. Trotzdem will ich hoch zur Himmelsterrasse, mit mehr als tausenddreihundert Metern der höchste Berg des Jiu-Hua-Gebirges. Zum Glück gibt es eine Seilbahn auf den steilen Berg, in der mir Buddha und das Wetter nichts anhaben können. Doch kaum sitze ich allein in der Seilbahngondel, schwindet meine Zuversicht. Während ich über tiefe Schluchten schwebe, wird das kleine Blechgehäuse von Windböen gepackt und so stark hin und her geschüttelt, dass sogar der Bordlautsprecher ausfällt. Rache, versuche ich mich zu beruhigen, widerspricht allen Prinzipien des Buddhismus. «Bist du dir da so sicher?», flüstert eine unheimliche Stimme aus dem defekten Lautsprecher. «Ganz sicher», sage ich laut. Tatsächlich fasse ich aber erst wieder Mut, als ich das Herstellerschild an der Gondel lese: «Svoboda, Karosserie-und Stahlbau, A-4664 Schloss Oberweis, Austria.» Gegen eine österreichische Qualitätsgondel, so steht es gewiss irgendwo geschrieben, kann auch ein rächender Buddha nichts ausrichten.
Tatsächlich erreiche ich unbeschadet die Bergstation. Hier oben hat es sogar aufgehört zu regnen. Mit einigermaßen frischem Sinn – ich habe allerdings immer noch Temperatur – steige ich die Treppe zum Baijingtai-Kloster hoch, einem großen, gelben Gebäudekomplex, der an schroffen Felsen klebt, rund zweihundert Meter unter dem Gipfel. Hier dringt ein Riesenlärm aus einer dunklen Halle. Ich sehe nach und finde die Klosterkantine, in der rund dreißig alte Frauen durcheinanderschreien. Es müssen Pilgerinnen sein, denn in der Mitte der Kantine sitzen ein paar Mönche, die offenbar dazugehören. Allerdings hatte ich bisher eine andere Vorstellung von gläubigen Buddhistinnen. Die Frauen kämpfen erbittert um einen Platz an einer Durchreiche, hinter der zwei Köchinnen ein einfaches Gericht verteilen.
Das Essen – Tofu, kleingehackte Gurken und sauer eingelegte Kartoffelstreifen für nur zehn Yuan – sieht nicht schlecht aus, also versuche auch ich mich anzustellen. Doch ich habe keine Chance. Die Furien drängen mich brutal zur Seite. Ich ziehe mich in eine Ecke der Halle zurück, von wo aus ich das Kesseltreiben weiter beobachte. Die Frauen puffen, schubsen, keifen. Selbst um einen Reistopf, an dem sich jede abseits der Durchreiche frei bedienen kann, wird gnadenlos gerungen. Gerne würde ich den militanten Damen erklären, dass sie gleich mehrfach gegen den achtfachen edlen Pfad des Buddha verstoßen, genauso wie gegen die Gebote des «Zivilisierungsbüros des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei», die unten an der Talstation angeschlagen sind. Dort heißt es unter
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