Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu
nicht im letzten Moment zu ihnen in die Gondel gesprungen wäre. Dann hört es bei Sonnenuntergang auch noch auf zu regnen. Ich setze mich auf den großen Dorfplatz, an den Teich, in dessen Brackwasser dicke Goldfische und Schildkröten schwimmen, und rauche eine «Roter Fluss»-Zigarette, weil es meine Stammmarke «Mittlerer Süd-See» nicht gibt.
Kaum ist die Sonne weg, wird das ganze Dorf illuminiert, und auch auf den Bergen leuchten die Tempel und Pagoden. Alles um mich herum beginnt zu klingen. In den Klöstern singen Mönche mit tiefen Stimmen, die Frösche quaken in den Lotusteichen, und ab und an ertönt von irgendwoher ein dumpfer Gong. Jetzt sind viel mehr junge Leute unterwegs. Sie sitzen auf den Terrassen der Restaurants, spielen Mah-Jongg, palavern laut und trinken Bier. Pärchen necken sich auf typisch chinesische Weise, das heißt, sie schlagen einander im Scherz, ringen und kabbeln miteinander, weil sie nicht wagen, sich öffentlich zu umarmen. Langsam beginne ich zu verstehen, dass für die chinesische Jugend dieser Berg gar nicht so heilig ist, sondern einfach ein Ausflugsziel und Themenpark. Der einzige Unterschied zu Disneyland ist, dass hier nicht Mickey und Donald regieren, sondern goldene Buddhas und ihre Kumpel, zu denen sogar Mao zählt. Was gibt es eigentlich dagegen einzuwenden?
Die Armee der Liebe
Vor mehr als hundert Jahren war diese Stadt ein wichtiger Stützpunkt langhaariger Soldaten, die für die Liebe kämpften. Auch heute spielt in Anqing die Liebe eine große Rolle. Unser Held bekommt in einem Internetcafé ein Briefchen, in einem seltsamen Park einen feurigen Blick und schließlich einen heißen Anruf. Es geht zu wie bei David Lynch.
Mein Linienschwenk am Abend scheint mir bei Buddha keine Punkte gebracht zu haben. In der Nacht toben schwere Gewitter über dem Buddhismus-Hotel, es blitzt alle fünf Sekunden. Mich weckt aber nicht der Donner, sondern ein Geräusch wie von einem laut dröhnenden, altersschwachen Generator. Es sind die Regentropfen, die aufs Dach trommeln. Gegen halb acht klingelt das Telefon. Eine dunkle Stimme sagt: «Qi dian ban dao le», und legt auf. Das heißt: «Halb acht Uhr ist gekommen.» Was soll das bedeuten? Ich habe nicht um einen Weckruf gebeten. Ist vielleicht die Apokalypse um halb acht?
Ein Blick aus dem Fenster scheint das zu bestätigen. Es gießt immer noch in Strömen, und der Lotosteich vor meinem Fenster, keine zwanzig Meter weit, ist in einer dicken Nebelsuppe verschwunden. Eigentlich will ich heute abreisen, aber bei diesem Wetter habe ich Schiss. Das ist nicht ganz unbegründet. In jedem Sommer kommt es unten in der Ebene entlang des Jangtse zu größeren Überschwemmungen. Kurz vor meiner Abreise hat das Jangtse-Flutkontrollhauptquartier (das heißt wirklich so) eine besonders ernste Flutwarnung ausgegeben. Weil die Sommer der letzten Jahre ungewöhnlich heiß und trocken waren, rechnet man in diesem Jahr mit der schwersten Flut seit 1998. Damals verloren insgesamt siebentausend Menschen ihr Leben und vierzehn Millionen ihr Obdach, und das ist selbst für China keine kleine Zahl.
Bei meiner Abreise habe ich diese Warnungen in den Wind geschlagen. Schließlich kann man unterwegs immer irgendwie sterben, nicht nur in China. Droht aber eine Katastrophe konkret zu werden, kann einen das schon nervös machen. Soll ich wirklich weiterfahren oder lieber noch einen Tag bleiben, weil es hier oben sicherer ist? Ich schwanke. Da fällt mir ein, dass ich Laotses «Dao De Jing» im Gepäck habe, das heilige Buch der Daoisten. Ich hatte mich hier auf dem Berg damit beschäftigen wollen und eventuell mit einem Mönch darüber disputieren. Gut, jetzt kann der Daoismus mal zeigen, was er draufhat. Ich schlage das Buch blind auf einer Seite auf und lese: «Plane das Schwierige, wo es noch leicht ist.» Das ist mal eine konkrete Ansage. Also los. Draußen vermeide ich den Sturz in einen angeschwollenen Gebirgsbach nur, weil ich ihn laut brüllen höre. Zu sehen ist praktisch nichts, und auch der Shuttlebus ins Tal ist nur zu ertasten. Unten schüttet es weiter wie aus Kannen, und der einzige Bus nach Anqing, mein nächstes Ziel, ist schon um sieben gefahren. Also nehme ich einen Bus nach Chizhou, der nächsten größeren Stadt. Die Flüsse neben der Nationalstraße sind über die Ufer getreten, zur Freude eines Wasserbüffels, der sich bei Kilometer vierhundertzwanzig in einem frischen Schlammloch suhlt. Und dann, kurz vor Chizhou, hört es mit einem
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