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Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu

Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu

Titel: Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Y. Schmidt
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Mal auf zu regnen, und ich kriege in der Stadt sofort Anschluss. Gar nicht so übel, denke ich, die Tipps von Herrn Laotse.

    Der Bus nach Anqing sieht etwas mitgenommen aus. Die Polster sind schmutzig und zerbissen. Dafür sind die Passagiere nett. «Du bist Deutscher?», fragt mein Sitznachbar. «Was für ein Zufall. Unser Präsident Hu Jintao hat gestern noch mit deiner Kanzlerin Mo Ke’er telefoniert.» Zu dem Gespräch passt die Gegend, durch die wir fahren. An den Rändern der Felder und Wiesen wachsen Wacholderbüsche, es sieht hier ein bisschen so aus wie in der Lüneburger Heide. Bei Kilometer fünfhundert passieren wir ein Straßendorf. Es ist nicht ganz so hässlich wie die Dörfer davor, wohl, weil bisher das Geld für die Vollverklinkerung der alten Häuser fehlte. Und dann sind wir mit einem Mal am Meer.
    Das Meer ist in Wirklichkeit der Jangtse, im Dunst scheint der Fluss sich ins Unendliche zu erstrecken. Und tatsächlich heißt Jangtse nichts anderes als Sohn des Meeres. Allerdings nennen nur Westler den Fluss so, denn eigentlich ist Jangtse der Name für das Flussdelta. Für die Chinesen heißt der Fluss Changjiang, Langer Fluss. Der Name ist nicht schlecht gewählt: Der Fluss ist der längste Chinas und der drittlängste der Welt. Mit 6380 Kilometern übertrifft er sogar die Nationalstraße 318 um tausend Kilometer. Weil er zu weiten Teilen parallel zu meiner Straße verläuft, werde ich bis zur tibetischen Grenze immer wieder auf den Jangtse stoßen. Heute überquere ich ihn das erste Mal. Der Bus fährt über eine brandneue, einen halben Kilometer lange Hängebrücke, die selbst auf meiner neuen Karte noch nicht eingezeichnet ist. Ich sehe ein halbes Dutzend große Frachter unter uns flussaufwärts durch den Nebel gleiten. Dann sind wir auf der anderen Seite, in Anqing.

    Ich weiß nicht viel über diese Stadt. Und außer einem Tempel mit einer großen Pagode soll es auch keine Sehenswürdigkeiten geben. Ich will hier trotzdem Station machen, weil ich hoffe, etwas über eine Charaktereigenschaft zu erfahren, um die ich die Chinesen mehr beneide als um alles andere: ihre nahezu unendliche Gelassenheit und Geduld. Das mag vielleicht wie ein abgedroschenes Chinaklischee klingen, doch dieses Mal ist es eins, das stimmt. Ich staune jedes Mal, wenn ich in Peking abgerissene Lumpensammler beobachte, die auf den leeren Ladeflächen ihrer Dreiräder hocken. Sie haben ganz offensichtlich den ganzen Tag noch keinen Cent verdient, und trotzdem schwatzen sie stundenlang, lachen und rauchen Zigaretten, als seien sie die reichsten Männer auf der Welt. Wie könnt ihr bloß so gut drauf sein, würde ich sie gerne fragen, wo ihr noch nicht einmal wisst, ob ihr heute Abend essen werdet? Wie ertragt ihr nur eine solche Ungewissheit jeden Tag aufs Neue?
    Nur ab und zu reißt auch den Chinesen der Geduldsfaden, und dann geht es richtig rund. Fahrer steigen aus ihren Autos und beginnen sich mitten auf der Straße ohne Rücksicht auf Verluste zu prügeln. Ich habe auch schon einen amoklaufenden Restaurantbesitzer volle Bierflaschen nach seiner Frau werfen sehen, und in einem südchinesischen Dorf Schuhputzerinnen, die übereinander herfielen und einander die Haare ausrissen. Was mich jedes Mal verblüfft, ist die Geschwindigkeit, in der aus scheinbar unendlich duldsamen Chinesen Berserker werden.

    Genau so etwas passierte vor mehr als hundertfünfzig Jahren auch in Anqing, allerdings in viel größerem Maßstab. Damals war die Stadt eine Hochburg des größten und vielleicht auch verrücktesten Bauernaufstandes in der Geschichte der Menschheit, der Taiping-Rebellion. Angeführt wurde sie von einem Dorfschullehrer mit dem Namen Hong Xiuquan. Als dieser mehrmals sein staatliches Beamtenexamen nicht bestand, erlitt er einen schweren Nervenzusammenbruch, in dessen Verlauf sich ihm offenbarte, er sei der jüngere Bruder von Jesus Christus. Sein Auftrag aber sei kein Geringerer, als das Reich Gottes auf Erden zu errichten. Seine ersten Jünger fand Jesus II. unter Schulfreunden und Verwandten. Später schlossen sich ihm auch Bauern an, die vom unfähigen und korrupten Qing-Regime genug hatten. Es dauerte nicht lange, bis es zu ersten Auseinandersetzungen mit den kaiserlichen Truppen kam. Hong stellte eine Armee auf, die er «Armee für den großen Frieden» oder auch «Armee der Liebe» nannte. Auf einen heutigen Betrachter würde sie wohl wie ein großer Haufen bewaffneter Hippies wirken, nicht nur des Namens wegen. Zum

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