Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu
Zeichen ihrer Rebellion ließen sich alle Taipings lange Haare wachsen. Und auch Frauen dienten in der Armee; ein Novum in der chinesischen Geschichte.
Die große Überraschung war dann wohl, dass ausgerechnet diese unprofessionelle Armee innerhalb kürzester Zeit weite Teile Chinas eroberte, wobei mit der Eroberung Anqings im Januar 1853 eine wichtige Vorentscheidung fiel. Von hier aus stürmten die Taiping-Rebellen weiter nach Nanjing, das sie in «Tianjing» – «Himmelshauptstadt» – umbenannten und das zum Mittelpunkt des «Himmlischen Reichs des Großen Friedens» – «Tai Ping» – wurde. Jesus II. selbst ernannte sich zum «Himmelskönig». Und wenn sich auch seine Erweckungsgeschichte ziemlich durchgeknallt liest, hatte doch sein Regierungsprogramm viele vernünftige Aspekte: Landreform, Gleichberechtigung von Mann und Frau, Abschaffung des Mondkalenders und das Verbot der Polygamie. Allerdings hielt sich der Herr des Himmels selbst nicht an die Regeln. Er führte ein Lotterleben mit achtundachtzig (Glückszahl!) Konkubinen; währenddessen verschlechterte sich sein Geisteszustand zusehends. Als schließlich ausländische Truppen den Qing-Kaiser im Kampf gegen das Taiping-Reich unterstützten, wendete sich auch militärisch das Blatt. Schon im Oktober 1861 wurde Anqing zurückerobert. Im Juni 1864 starb Hong im belagerten Nanjing, und einen Monat später fiel die Himmelshauptstadt. Damit war es mit dem Reich des Großen Friedens vorbei.
Mehr als zwanzig Millionen Todesopfer soll die Taiping-Rebellion gekostet haben, was sie zur zweitblutigsten militärischen Auseinandersetzung überhaupt macht, direkt nach dem Zweiten Weltkrieg. So erbittert wurde gekämpft, dass beispielsweise Anqing noch in den 1920er Jahren zu großen Teilen in Trümmern lag. Ich hoffe, hier auf Spuren der Rebellen zu stoßen. Ein Taiping-Vizekönig hatte in Anqing seine Residenz, davon muss man doch zumindest Reste ausgegraben haben. Vielleicht erfahre ich an diesem Ort mehr über den Aufstand. Wenn ich verstehe, warum die Chinesen so plötzlich rebellieren, verstehe ich vielleicht auch, weshalb sie ansonsten so geduldig sind.
Auf den ersten Blick wirkt Anqing wie eine stinknormale, mittelgroße chinesische Großstadt von sechs Millionen Einwohnern. An der zentralen Straße des Volkes stehen ein paar Hochhäuser, sonst dominiert die sechsstöckige graue Platte. An einem Sportgeschäft lese ich: «Concuss with the world together». Concussed wird vor allem in der Fußgängerzone, wo eine Shoppingmall steht, die Times Square heißt. Einen Times Square gibt es in jeder chinesischen Großstadt, das muss in irgendeinem Gesetz so angeordnet sein. Man hat auch einen McDonald’s, vor dem die lokalen Bettler liegen, unter ihnen eine Frau, die statt der Unterschenkel ein paar Gummistümpfe hat. Ansonsten säumen unzählige Handygeschäfte die Straßen, in keinem ein Kunde, dazwischen riesige Schuhgeschäfte und ein paar Banken. Ich mag diese Durchschnittlichkeit. Ich fühle mich sofort zu Hause, was vielleicht daran liegt, dass ich in Bielefeld aufgewachsen bin, dem Anqing Deutschlands.
Allerdings hat die Normalität auch einen Nachteil: Über Anqing ist praktisch nichts in Reiseführern zu finden, zumindest in keinem, den ich lesen kann. Wie soll ich so die Stützpunkte der Taiping-Rebellen finden? Leute auf der Straße ansprechen? Ich versuch’s und frage einen Hello-Blöker in holprigem Chinesisch: «Taiping wang de bieshu zai na’r?» – Wo ist die Villa des Taiping-Königs? «Kommst du aus Amerika?», fragt er mich zurück. «Nein, ich komme aus Deutschland.» – «Oh, Deutschland ist sehr gut. Das hier ist Anqing, Provinz Anhui.» Und weg ist er. Der nächste Mann weiß noch besser in der Welt Bescheid: «Deutschland? Das liegt in Europa. Und China liegt in Asien.» Das sind zwar alles Topinformationen, doch sind sie leider für meine Zwecke eine Idee zu global.
Also gebe ich vorerst auf und widme mich einer trivialeren Sache. Ich bin jetzt über eine Woche unterwegs, und langsam fange ich an zu stinken. Ich muss dringend Wäsche waschen. Im Hotel empfiehlt man mir eine Reinigung um die Ecke. Ich laufe aber erst mal dran vorbei, weil ich den Laden nicht als Wäscherei identifiziere. Er sieht eher aus wie der Empfangsraum einer Bank, mit schwarzen Ledersofas und kleinen Palmen in Blumenkübeln. Nur ganz hinten hängt gereinigte Kleidung auf einem Kleiderständer, fein säuberlich in Plastiküberzügen. Eigentlich hatte ich an
Weitere Kostenlose Bücher