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Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu

Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu

Titel: Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Y. Schmidt
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Bambuswälder erstrecken, zwischen die ein unbekannter Modellbauer wie zufällig Tempel, Klöster und Pagoden geklebt hat. Auf mehr als hundert Quadratkilometern soll es laut meinem Reiseführer hier 99 Gipfel geben, dazu genau 16 Bergrücken, 14 überhängende Felsen, 18 gurgelnde Quellen, 79 Tempel und Klöster und 1500 Buddhastatuen. Doch heute nehme ich mir gar nicht erst vor nachzuzählen. Ich habe Wichtigeres zu tun.

    Ich will die verschiedenen chinesischen Religionen testen, denn wenn ich Chinese werden möchte, muss ich mich ja wohl auch für eine chinesische Religion entscheiden. Jiu Hua Shan bietet sich da als Testgelände an, weil es sich hierbei nicht nur um den «Berg Nummer 1 in Südostchina» (so ein Schild an seinem Fuße) handelt, sondern auch um einen der vier heiligen Berge des chinesischen Buddhismus. Für den späteren Verlauf der Reise plane ich auch einen heiligen Berg der Daoisten zu besuchen, der zweiten größeren Religionsgemeinschaft in China. Danach werden wohl die Würfel fallen, in die eine Richtung oder eben in die andere.
    Dabei gehe ich ganz unvoreingenommen an meine Aufgabe heran. Schließlich weiß ich über den Buddhismus gerade mal, dass er eine verwirrende Angelegenheit ist. Die Schwierigkeiten fangen schon bei Buddhas Namen an. Heißt er jetzt Gautama oder Siddharta, redet man ihn mit Sakyamuni an, oder sagt man einfach Buddha? Noch verwirrender ist, dass es nicht nur einen Buddha gibt, sondern ganz viele. Den Buddha der Gegenwart, den der Zukunft und den Medizinbuddha, dazu eine ganze Batterie transzendenter Buddhas, Vorzeitbuddhas und noch etwa drei Millionen Bodhisattwas. Mir ist das ein bisschen zu viel. Ich bin als Protestant mit einer übersichtlicheren Religion aufgewachsen: Gottvater, Sohn und Heiliger Geist, und fertig war die Glaubenslaube.
    Um von Anfang an tief in die Geheimnisse der Religion einzudringen, miete ich mich im Fojiao Binguan ein, dem Buddhismus-Hotel. Im Erdgeschoss befindet sich statt einer Pianobar ein kleiner Tempel, vor dem in einem blumengeschmückten Innenhof Räucherwerk verbrannt wird. Auch mein Zimmer ist nicht untranszendent. Verglichen mit dem Quartier von Frau Schlepperin kommt es mir vor wie ein Stück Nirwana. Ein himmlisch weiches Doppelbett, bezogen mit frischen Laken, im Badezimmer Shampoofläschchen mit eingeprägtem Lotoslogo, orangefarbene Handtücher: alles, was einer braucht, um Buddha näherzukommen. Nur ein Spiegel fehlt, dafür hängt mitten im Zimmer einer. Ich versuche mich davor zu rasieren und schmiere überall mit der Rasiercreme rum. Buddha hatte anscheinend keinen Bart, oder er war so erleuchtet, dass er sich ohne Spiegel im Dunkeln rasieren konnte.
    Nach der Rasur geht es mir gleich deutlich besser, die Inspektion des heiligen Berges kann beginnen. Leider gibt es keine Hinweisschilder, also betrete ich einfach auf gut Glück einen Tempel. Er muss wichtig sein, denn von allen Seiten stürmen Besuchergruppen heran, bewaffnet mit Plastiktüten voller Räucherkerzenmunition unterschiedlichen Kalibers. Die ganze Anlage ist an einen steilen Hang gebaut, untereinander sind die verschiedenen Ebenen und Tempelhallen mit steilen Treppen verbunden, die nicht einfach zu erklimmen sind. Deshalb treibt auch eine kleine Reiseführerin mit dem Megaphon eine Gruppe von fülligeren Männern an. «Los, weiter, diesen Tempel dürft ihr nicht verpassen.» Die Männer ächzen, schwitzen, fluchen, aber stapfen tapfer weiter. Erst am Ende der langen, steilen Treppe begreife ich, warum sie sich hier hochtreiben ließen. Hinter einer großen Terrasse erhebt sich eine Tempelhalle. Im Inneren hockt der Mönch Wuxia, von dem ich schon gelesen hatte. Er kam bereits im 16. Jahrhundert nach Jiu Hua Shan, setzte sich auf einen Felsen und verbrachte dort die nächsten achtundzwanzig Jahre damit, mehr als achtzig Folianten mit buddhistischen Texten vollzuschreiben. Er muss ein wenig exzentrisch gewesen sein, denn er tunkte dazu seinen Federkiel nicht etwa in ganz normale Tinte, sondern in eine Mischung aus Goldpulver und Blut aus der eigenen Zunge. Geschadet hat es ihm nicht, denn Wuxia starb erst mit hundertsechsundzwanzig Jahren. Als der eigenwillige Mann dann nicht verwesen wollte, vergoldeten ihn seine Mönchskollegen kurzerhand und setzten ihn in diesen Tempel, wo er bis heute ausharrt.
    Ich komme gerade rechtzeitig zu einer Zeremonie, offenbar zu Ehren des seit mehr als dreihundert Jahren pensionierten Mönches, der in dieser Zeit erheblich

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