Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu
Als ich aufsehe, steht eine Pepsi-Dose da, unter der ein kleiner Zettel liegt. Verblüfft entfalte ich ihn und lese die mühsam gekrakelten Blockbuchstaben: «Can I interest you in a cup of drink? Please come to Seaside again.» Seaside, das muss der englische Name des Internetcafés sein. Aber wer mag das geschrieben haben? Ich tippe auf das junge und hübsche Ding am Tresen, das sich allerdings durch keinen Blick verrät. Hey, das ist sehr nett. Den letzten Zettel dieser Art habe ich in der Schule bekommen. Und noch nie in meinem Leben hat mir eine fremde Frau einen Drink spendiert. Hat die Armee der Liebe außer Chaos und Zerstörung in dieser Stadt noch andere Spuren hinterlassen?
Das wäre vielleicht etwas überinterpretiert. Genauso gut könnte ich behaupten, die vielen englischen «I Love You»-Kritzeleien in der Kuppel der mehr als vierhundert Jahre alten Zhenfeng-Pagode unten am Jangtse seien eine weitere Spur. Ich schaue durch ein offenes Bogenfenster auf den Fluss, wo eine endlose Frachter-Karawane Kies und Sand flussabwärts transportiert, zu den großen Baustellen an der Küste. Ein schöner Blick, aber die falsche Fährte. Eine Möglichkeit wäre natürlich, den Wahrsager, der an der Tempelmauer sitzt und eine riesige Jiang-Zemin-Brille trägt, nach den Taipings zu fragen. Doch der liest gerade einer kleinen Bäuerin aus der Hand, was für gesundheitliche Probleme sie hat, und zwanzig Leute stehen daneben und hören zu. Nein, ich brauche so was wie einen Stadtplan, um mir einen Überblick über die ganze Stadt zu verschaffen.
Nach einigem Suchen finde ich eine Neues-China-Buchhandlung versteckt neben dem McDonald’s. Davor spielt gerade eine Band auf der Straße. Die Musiker sind allesamt Behinderte, die sich zusammengetan haben, um irgendwie an Geld zu kommen. Sie sind allerdings mehr behindert, als dass sie Musiker sind. Dementsprechend schaurig klingen die fett elektrisch verstärkte Gitarre und die Orgel. Ein Sänger mit contergankurzen Armen singt dazu lauter als der Verkehrslärm: «Ma ma bu yao wo» – Mama will mich nicht. Gerade nähert sich der Band ein Trupp Polizisten, die schon von weitem verlangen, man möge mit dem Krach aufhören. Und wie immer bei solchen Gelegenheiten bildet sich eine große Menschentraube, die gespannt die Diskussion zwischen den Behinderten und der Polizei verfolgt.
Ich gehe in die Buchhandlung und will mir die Stadtpläne zeigen lassen. Es gibt nur einen, und der ist auf Chinesisch. Ein Demoexemplar hängt an der Wand. Immerhin sind die wenigen Attraktionen Anqings in den Plan hineingemalt: Ich entdecke einen Park im Osten, die Zhenfeng-Pagode im Süden und ein historisches Tor ganz weit im Westen. Daneben ist etwas eingezeichnet, das ich für Grundmauern von Ruinen halte. Jede Wette: Das ist der Palast des Taiping-Vizekönigs. Ich wecke den unter der Karte mit dem Kopf auf einem Bücherstapel schlafenden Buchhändler und bitte ihn, mir vorzulesen, was neben dem Tor steht. Müde murmelt er: «Shizi Shan.» Der Khakifrucht-Berg, wenn ich recht verstanden habe. Das ist doch schon mal ein ausdrucksvoller Name.
Als ich wieder auf die Straße trete, hat sich die Szenerie geändert. Die Polizisten sind verschwunden, und die Band spielt wieder. Ich bin verblüfft. In einer deutschen Fußgängerzone wäre sie längst abgeräumt worden. Nicht so in Anqing, wo anscheinend selbst unter der Polizei die Liebe regiert. Gerührt winke ich ein Taxi heran. Am Steuer sitzt eine dickbezopfte Fahrerin. Überhaupt fahren in dieser Stadt viel mehr Frauen Taxi als in Shanghai oder Peking. Auch ein Relikt der Taiping-Rebellion? Auf jeden Fall will mich diese Taxifahrerin daran hindern, meine in der Buchhandlung gemachte Entdeckung zu verifizieren. Statt zum Shizi Shan fährt sie Richtung Tianzhu Shan, zu einem bekannten Naturpark in der Gegend. Dort ist es bestimmt auch sehr schön, aber erstens will ich da nicht hin, und zweitens ist der Park fünfzig Kilometer entfernt. Es dauert etwas, bis ich begreife, dass sie falsch fährt. Auch dann braucht es noch eine Weile, bis ich der rebellischen Fahrerin vermitteln kann, dass wir beide unterschiedliche Vorstellungen von dem Fahrtziel haben. Immerhin versteht der nächste Taxifahrer, was ich will. Er fährt durch wilde Suburbs zu einem Parkplatz, an dessen Rand ein großes Kohlekraftwerk vor sich hin qualmt. Gegenüber steht das alte Tor, das ich auf dem Stadtplan gesehen habe. Ich kaufe bei einem alten Mann eine Eintrittskarte für
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