Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu
Kopierlust des Westens. Achttausend Kilometer östlich von Mainz sucht er den Erfinder des Buchdrucks, findet aber nur ein verschorftes Knie. Abends ringt der Held mit seinem Gewissen und einer dicken Frau.
Anqing hatte mir gezeigt, wie schwer es ist, etwas über einen Ort zu erfahren, wenn man nicht lesen und kaum sprechen kann und auf Eingebungen im Fieberwahn vertrauen muss. Ich hoffe, in Yingshan, Station Nummer fünf dieser Reise, wird es einfacher sein. Der Ort, der mitten in den Dabie-Bergen liegt, soll nur lächerliche 400 000 Einwohner haben. Und außerdem ist das, was ich hier suche, auch wesentlich konkreter als «Gelassenheit» und «Geduld». Ich will etwas über Bi Sheng erfahren, den Erfinder des Buchdrucks mit beweglichen Lettern. Bi Sheng ist auf sein Druckverfahren irgendwann zwischen den Jahren 1041 und 1048 gekommen. Und wenn auch seine Lettern nur aus leicht zerbrechlichem gebranntem Lehm waren, so druckte er doch ziemlich genau vierhundert Jahre früher als Johannes Gutenberg.
Nicht wenige Leute vermuten sogar, Gutenberg habe bei Bi Sheng abgekupfert. Paul Theroux schreibt: «Es gibt eindeutige Beweise, dass Gutenberg seine Technologie von den Portugiesen bekommen hat, die sie wiederum von den Chinesen lernten.» Das wird von der neueren westlichen Wissenschaft bezweifelt, die glaubt, Gutenberg sei von allein auf den Buchdruck gekommen, weil die Buchdruckerei damals in Europa in der Luft lag. Verdächtig ist die Sache trotzdem, denn auch das chinesische Porzellan wurde ja angeblich in Deutschland von Johann Friedrich Boettger – bzw. Ehrenfried Walther von Tschirnhaus, wie man heute meint – noch einmal erfunden. Eindeutig geklaut hat der Westen andere chinesische Erfindungen, wie – und das ist nur eine kleine Auswahl – Nudeln, faltbare Regenschirme, Drachen, den Kompass, Seide, Papiergeld, Stahl und Toilettenpapier. Bezahlt wurde nie, denn als die Westler die Erfindungen abkupferten, war das Copyright noch nicht erfunden. Wenn die Chinesen aber heute ein paar Gucci-Taschen, Ritter-Sport-Schokoladetafeln oder Rolexuhren kopieren, redet alle Welt von geistigem Diebstahl, statt einfach froh zu sein, dass China nicht den Rest der Welt auf Billionen verklagt, allein für das Nachkochen von Stahl.
Toll wäre natürlich, wenn ich im Yingshaner Bi-Sheng-Museum einen bisher übersehenen Hinweis finden würde, dass der Drucker gute Kontakte zu Portugiesen hatte. Dafür würde man mich wahrscheinlich sofort zum Chinesen schlagen. Allerdings bin ich im Moment immer noch in Anqing und müsste erst einmal nach Yingshan gelangen. Und das ist schon wieder komplizierter als gedacht.
Als mein Bus morgens um sechs rückwärts aus seiner Lücke setzt, weiß ich jedenfalls noch nicht, ob ich am selben Tag auch in Yingshan ankommen werde, obwohl die Stadt nur hundertsechzig Kilometer entfernt ist. Ich habe mal wieder nur ein Ticket in die nächste größere Stadt. Doch das macht nichts. Hauptsache, es geht in die richtige Richtung. Inzwischen ist auch das Rücksetzen auf den Busbahnhöfen für mich ein vertrautes Ritual geworden. Es wird dabei rhythmisch mit einer Trillerpfeife gepfiffen, und immer pfeift eine Frau. Denn die chinesischen Busbahnhöfe werden hauptsächlich von Frauen geschmissen. Sie verkaufen die Tickets, kontrollieren die Passagiere vor dem Einsteigen und außerdem jeden einzelnen Bus bei der Abfahrt auf seine Sicherheit. Auf der Strecke wird der Bus dann noch einmal gecheckt, meistens an der Stadtgrenze. Hier werden die Passagiere im Bus gezählt, um zu verhindern, dass der Busfahrer Leute auf eigene Rechnung transportiert. Unserem Fahrer gelingt es heute trotzdem. Am Kontrollpunkt lässt er sich ganze vier Passagiere bescheinigen, die seit dem Busbahnhof im Bus sitzen. Dann fährt er zurück und hält auf einem versteckten Parkplatz hinter Anqings Großmarkt. Dort stürmt eine Meute Jugendlicher den Bus. Das gibt ein schönes Extrageld, das der Fahrer nur mit dem Schaffner zu teilen braucht. Danach geht es weiter auf der 318 nach Nordwesten. Der Fahrer feiert seinen Bonus, indem er heulsusige Xinjiang-Balladen über die Anlage dröhnen lässt, die Jugendlichen kontern mit Hardrock aus ihren aufgedrehten Handys. Trotzdem schafft es mein Nachbar, an meiner Schulter einzuschlafen.
Bei Streckenkilometer fünfhundertsiebzig wird er geweckt, als der Schaffner mich an einer Kreuzung recht rüde aus dem Bus schmeißt. Ich habe keine Ahnung, wo ich bin. Wahrscheinlich wird es die Stadt
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