Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu
einen Yuan und stehe dann in einem Park, wie ihn sich selbst Jesus II. in seinen kühnsten Wahnphantasien nicht besser hätte ausdenken können: Auf ein paar Hügeln wächst zwischen ein paar Bäumen ein dichter Wald aus Hochspannungsmasten. Ich weiß auch nicht, warum, aber irgendetwas sagt mir: Hier bist du auf der richtigen Spur. Aufgeregt stoße ich auf dunklen Wegen tiefer in den Park vor. Das Einzige, was ich hier höre, sind dröhnende Maschinen in der Ferne und ab und zu ein unheimlich dumpfer Gong. Ich bin schon eine Weile gegangen, als ich den ersten Menschen begegne. Eine kleine Gang. Die Jungs tragen chinesische Rockstarföhnfrisuren mit gefärbten Strähnchen, dazu die bunten Rockstarhemden offen. Die Taiping-Rebellen hätten wahrscheinlich ihre helle Freude an ihnen. Mir würde jetzt wieder mulmig werden, wäre ich nicht in China. Die Gang staunt auch bloß über den seltsamen Ausländer hier draußen und grüßt mich freundlich mit – Überraschung – «Hello».
Überhaupt scheint der Park bei arbeitslosen Jugendlichen beliebt zu sein. Auf einem kleinen Aussichtsturm treffe ich auf drei Jungs, die hier mit einem miniberockten Mädchen herumlungern. Das Mädchen knutscht wild mit einem der Jungs. Einer der beiden anderen macht mit seinem Handy Fotos davon. Als ich dazukomme, lösen sie sich sofort aus der Umklammerung. «Nur ein Ausländer», beruhigt der Fotograf. Das Mädchen entspannt sich zuerst, macht einen Schmollmund Richtung Kamera und greift sich wieder ihren Typen. Ich schaue mir die Gegend an, denn von hier oben lässt sich der größte Teil des Knutsch-und Starkstromparks gut überblicken. Er liegt wie eine Insel in einem Industriegebiet, zwischen dem großen Kraftwerk und riesigen Kohlehalden. Deshalb riecht es hier auch überall nach Kohle und Schwefel. Nur von den Ruinen, die ich auf der Karte gesehen habe – keine Spur.
Es hat keinen Zweck, denke ich und will schon meine Suche aufgeben, als ich durch den Starkstromwald einen Sandsteinpavillon schimmern sehe. Dahinter ein weiter, ebener Platz mitten im Wald, daneben liegt ein großer Findling mit einer Inschrift, die ich nicht lesen kann. Doch das macht nichts. Die Schauer, die mir über den Rücken laufen, sprechen eine eindeutige Sprache: Ich habe den Ort gefunden, an dem der Palast des Taiping-Vizekönigs stand oder eine Kaserne der Armee der Liebe oder einfach irgendetwas anderes Taipingmäßiges. Eine letzte Bestätigung wird mir ein blaugestrichenes Museum geben, das ein paar hundert Meter entfernt durch das Unterholz leuchtet. Allerdings muss ich mich beeilen, denn es ist kurz vor vier, und das Museum könnte gleich schließen.
Ich stürze los und presche mitten durch den Wald auf das Blau zu. Ich laufe immer schneller, achte kaum auf die Äste, die mir den Weg versperren, und dann hören von einer Sekunde auf die andere die Bäume und Sträucher auf. Ich stehe an einem Abgrund und sehe auf das Dach einer hundert Meter langen dunkelblauen Industriehalle, das Kohlelager des Kraftwerks offenbar. Erst jetzt bemerke ich, wie tief es hier hinuntergeht. Wäre ich nur einen Meter weiter gelaufen, ich wäre unweigerlich zwanzig, dreißig Meter hinabgestürzt. Okay, genug geforscht für heute, das war’s.
Erst als ich wieder in einem Taxi sitze, merke ich, dass sich meine Stirn heiß anfühlt. Im Hotel messe ich dann mehr als achtunddreißig Grad Fieber. Damit lassen sich meine Schauer und Ahnungen im Park vermutlich erklären. Andererseits war ich ja im Starkstromwald Jesus II. tatsächlich sehr, sehr nahe. Wäre ich in den Abgrund gestürzt, ich hätte ihn wahrscheinlich stante pede irgendwo im Jenseits getroffen. Noch näher ist mir im Moment allerdings eine Vertreterin einer neugegründeten Armee der Liebe. Sie ruft mich am frühen Abend an. «Möchten Sie eine Massage?», flötet sie mir ins Ohr. «Ich komme auch aufs Zimmer.» Hm. Einerseits wäre es natürlich interessant, sie zu Geschichte und Struktur ihrer Organisation zu befragen. Doch weil ich krank bin, ziehe ich es vor, vom Fenster aus den Vollmond zu betrachten, der auf ein Werbeplakat einer Herrenmodefirma scheint, die den schönen Namen «Busen» trägt. Untermalt wird diese Aussicht von einem miserablen Sänger, der in der Karaokebar gegenüber versucht, die chinesische Version der Internationale zu zerstören. Mir macht das nichts. Ich glaube, ich bin seit heute schon etwas entspannter.
Miss Sumo
Unser Held macht sich Gedanken über das Copyright und die
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