Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu
Qianshan sein, weil ich bis hierhin ein Ticket habe. In seinem unverständlichen Anhui-Dialekt schreit mir der Busfahrer irgendwas hinterher, während bereits zwei Fahrradrikschafahrer auf mich einteufeln. Nach zehn Minuten Teufelei weiß ich, dass es am Ortseingang einen Busbahnhof geben soll, von wo ein Bus nach Yuexi fährt, einer Stadt auf dem Weg nach Yingshan. «Du musst dich beeilen, sonst ist der Bus weg», schreit der Rikschamann. Also lasse ich mich von ihm fahren. Tatsächlich fährt der Bus fünf Minuten später los. Er rollt allerdings nur bis zur nächsten Kreuzung, wo er noch eine Stunde wartet, um noch mehr Passagiere einzusammeln. Die Kreuzung kenne ich übrigens. Es ist dieselbe, an der mich der Rikschafahrer aufgelesen hatte.
Trotz der Warterei ist der Bus schon um die Mittagszeit in Yuexi, einer kleinen Stadt mitten in den Dabie-Bergen, an einem flachen, breiten Fluss gelegen. Die Luft hier oben ist viel frischer und angenehmer als die schwülheiße Atmosphäre, die unten am Jangtse herrscht, und ich spiele schon mit dem Gedanken zu bleiben. Doch zu meiner Überraschung gibt es noch am frühen Nachmittag einen Bus direkt nach Yingshan. Ich bereue es nicht, gleich weitergefahren zu sein, denn die Strecke von Yuexi nach Yingshan entpuppt sich als die bisher schönste der ganzen Reise. Die 318, die unten im Tal eher einer Autobahn ähnelte, ist jetzt nur noch ein schmales Band, das sich durch eine Berglandschaft schlängelt, die entfernt an die Toskana erinnert. Mit jedem Kilometer werden die Berge höher. Dünne weiße Wasserfälle stürzen aus Hunderten von Metern in von Kiefern bewachsene Schluchten. Mit jedem Kilometer geht es auch in der Zeit zurück. Aus langweiligen Klinkerhäusern werden mit grauen Ziegeln gedeckte Lehmhäuser, und Bauern mit breitkrempigen Hüten legen Stroh auf die Fahrbahn, damit es von den Reifen der Autos gedroschen wird.
Im Bus herrscht gute Stimmung, obwohl kein Fernseher läuft. Besonders prächtig amüsiert sich ein Mann um die vierzig zwei Reihen vor mir. Er hat sich aber auch ein hochinteressantes Spaßobjekt ausgeguckt: mich nämlich. Er schaut die ganze Zeit nach hinten und starrt mich ungläubig staunend an. Er lacht auch immer wieder und äfft mein Chinesisch nach, wenn ich meinem Sitznachbarn eine Antwort gebe. Zweifellos handelt es sich bei dem Mann um einen der vielen ehrenamtlichen Laowaiforscher Chinas, also Leute, die das seltsame Verhalten von Ausländern akribisch studieren und auf die man allerorten trifft.
Allerdings macht dieser Forscher seinen Job nicht besonders. Nach einer Weile schläft er einfach ein, obwohl ich ihm eine Vielzahl von Gesichtsausdrücken biete. Ich nutze die Gelegenheit, um heimlich ein Foto von seinem nackten, verschorften Knie zu machen, das er in den Gang gestreckt hat – denn auch ich habe eine anthropologische Ader. Eine halbe Stunde später wacht der Forscher wieder auf. Er dreht sich sofort zu mir um, deutet auf sein Knie und fragt: «Hast du vielleicht heimlich mein verschorftes Knie fotografiert, du Bastard?» Das ist jetzt peinlich. Wie hat er das überhaupt gemerkt? Lachend wiederholt der Mann seine Frage, und allmählich verstehe ich, was er wirklich meint, nämlich so was wie: «Hast du vielleicht Lust, mein verschorftes Knie zu fotografieren?» Ich bin erleichtert, dass wir uns nicht prügeln müssen, und natürlich lasse ich mir nicht anmerken, dass ich das Bild schon habe. Ich fotografiere grinsend das Knie nochmal. Dann zeige ich dem merkwürdigen Mann das Foto auf dem Display. Er kommentiert es mit einem meckernden Lachen. Wahrscheinlich notiert er sich dabei im Kopf: «Sind von Schorf fasziniert. Quantensprung in der Ausländerforschung.»
Als der Bus bei Streckenkilometer 701 die Provinzgrenze zwischen Anhui und Hubei überschreitet, bin es dann ich, der eine interessante Entdeckung macht. Auf den 701er-Kilometerstein (wahrscheinlich noch in Anhui) folgt Kilometer 693. Auch die Kilometer 694 bis 701 gibt es doppelt, bis es schließlich mit Kilometer 702 so weitergeht, als sei nichts gewesen. Offenbar ist die Verständigung der Straßenbauabteilungen zwischen den beiden Provinzen nicht die beste. Die falsche Zählung bedeutet aber auch, dass meine Nationalstraße nicht 5386 Kilometer lang ist, sondern mindestens 5394. Wenn ich noch ein paar Kilometer mehr entdecke, wird aus ihr vielleicht noch die längste Straße der Welt.
Am Nachmittag gegen fünf rollt unser kleiner Bus in Yingshan ein. Schon jetzt
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