Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu
ist, was zu erleben.» Ich staune, denn so etwas Postmaterialistisches habe ich eigentlich noch nie von einem Chinesen gehört. Und von einer Chinesin schon gar nicht. Xiao Wan dagegen macht einen konservativeren Eindruck. Während Linda beim Reden recht unchinesisch herumfuchtelt und viel lacht, sitzt sie steif da und zieht ihr Rezeptionsgesicht – als schrieben wir 1976 und Mao sei gerade gestorben. Sie kleidet sich auch traditioneller. Zum Ausgehen hat sie sich extra zurechtgemacht und trägt eine von diesen unter jungen Chinesinnen hochbeliebten Rüschenblusen, die aussehen wie ein kleines Umstandskleid, weil sie sich unter dem Busen glockenförmig weiten. Linda hat ein hundsnormales T-Shirt an, was ihr eindeutig besser steht.
Nach dem Essen aber benehmen sich beide Damen wieder typisch chinesisch. Es ist fast wie ein kleiner Sketch. Weil ich keine Ahnung habe, was man abends so in Wuhan tut, will ich die Entscheidung den beiden überlassen. Weil aber Chinesen aus Höflichkeit praktisch niemals ihre Wünsche offen äußern, lautet ihre Antwort: «Wir machen, was du willst.» – «Nein, ich mache, was ihr wollt.» – «Nein, was du willst.» – «Ich weiß aber gar nicht, was ich will.» – «Das wissen wir auch nicht …» So geht das zehn Minuten, bis Linda sagt, dass sie gerne über die Jianghan-Straße bummeln würde, die glitzernde Einkaufsstraße Wuhans. Erleichtert sage ich: «Toll. Das machen wir.»
Ich hätte es wissen müssen. Das, was die beiden Bummeln nennen, ist in Wirklichkeit nichts anderes als Shoppen. Chinesinnen lieben Shoppen, wohl noch ein bisschen mehr als alle anderen Frauen auf der Welt; in meinem Zwischenheimatland, dem hauptsächlich von Chinesen bewohnten Singapur, hat man das Geldausgeben für Klamotten und Zeugs sogar zu einer Art Staatsreligion erhoben. Ich aber hasse kaum etwas mehr, als mit einer Frau einkaufen gehen zu müssen, so wie wohl jeder durchschnittliche heterosexuelle Mann. Und jetzt laufe ich mit zwei jungen weiblichen Hotelangestellten durch eine chinesische Zehnmillionenstadt, stehe lächelnd in Boutiquen und Filialen großer Ketten und sage: «Lasst euch ruhig Zeit.» Wie, um alles in der Welt, soll ich das bloß später meiner Frau erklären?
Wir gehen in geschätzte fünfundzwanzig Läden, die Freebird heißen, Sanfu, Annzo oder, wirklich wahr, Ebola Pop Culture. Doch das meiste, was hier angeboten wird, ist den Damen sowieso viel zu teuer. Nur Semir nicht, so etwas wie ein chinesischer H&M. Hier müssen alle zehn Verkäufer gleichzeitig laut durch den Laden brüllen, wenn auch nur ein T-Shirt für einen Euro fünfzig über die Ladentheke wandert. Ich verstehe nicht ganz, was sie schreien, aber es ist wahrscheinlich so etwas wie: «Schon wieder eins von unseren supergeilen T-Shirts verkauft, für nur fünfzehn Kuai, Leute!» Linda bestaunt die meisten Klamotten nur, befühlt die Stoffe oder findet mal eine geschmacklose Tüllbluse gut, mal eine aufwändig bestickte Jeans. Damit ist sie schon zufrieden. Als treibende Shopping-Kraft entpuppt sich Little Miss Missmut, die mit einem Mal erschreckend gute Laune hat. Sie probiert ein Teil nach dem anderen an und fragt mich jedes Mal nach meiner Meinung. Wenn ich etwas noch mehr hasse, als zu shoppen, dann ist es, ein Geschmacksurteil darüber abgeben zu müssen, was eine Frau anprobiert. Ich bin mittlerweile alt genug, um zu wissen, dass sie letztlich überhaupt nichts darauf gibt, egal ob sie nun Chinesin ist oder Deutsche. Trotzdem sage ich zum wiederholten Mal: «Nicht schlecht», als mir Xiao Wan eine Kombi aus Jeans und einem enganliegenden T-Shirt vorführt. Sie sieht darin tatsächlich besser aus, aber natürlich gibt sie die Sachen nach einigem Hin und Her wieder zurück.
Der Einkaufsbummel bleibt bei mir nicht ohne Nebenwirkungen: Nach zwei Stunden des Rumlaufens, Rumstehens, Rumguckens und Rumprobierens bin ich mir nämlich zum ersten Mal auf dieser Reise nicht mehr so sicher, ob ich wirklich noch Chinese werden will. Im Moment würde ich viel lieber mit David und Ahmed und meinetwegen auch dem rappenden Professor im Brussels sitzen, Bier trinken und mir sogar nochmal den Witz von dem Fax anhören, das aus dem Hintern kommt. Zum Glück wird auch Linda langsam müde. Sie zieht hinter Xiao Wans Rücken Gesichter und tritt gelangweilt von einem Bein aufs andere. Doch ihre Chefin nimmt sie bei der Hand und zieht sie weiter. An einer Straßenecke kauft Xiao Wan einer alten Frau einen
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