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Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu

Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu

Titel: Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Y. Schmidt
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machen, dass auf ihre Designerhandtaschen ein Bierfleck kommt. Auch von Drogen so weit keine Spur. Die härteste, die ich erspähe, ist ein Hanfblatt, das sich eine Chinesin auf ihre etwas zu pralle und weitgehend entblößte Brust tätowiert hat. Alles in allem geht es zu wie in jedem halbautonomen deutschen Jugendzentrum, nur vielleicht einen Tick gesitteter.
    Mein chinesischer Nachbar an der Theke trägt den englischen Namen Henry. Er ist besonders wohlerzogen, obwohl er jeden von den Besoffenen im Saal kennt. Als er hört, dass ich Deutscher bin, reckt er auch nicht den Arm in die Höhe, sondern erzählt mir freudestrahlend, «Die Blechtrommel» sei sein Lieblingsbuch. «Und mein Lieblingsfilm ist ‹Der Himmel über Berlin› von, wie heißt der Regisseur, Wum Wynders.» Offensichtlich wirkt auch in diesem Punkschuppen am äußersten Ende Wuhans noch Deutsch-China nach.
    Der Nepalese Cola, der nach einer Weile Henry auf dem Barhocker neben mir ablöst, spricht sogar Deutsch. Das beschränkt sich allerdings auf einen ausgesuchten Wortschatz, den er mir fast akzentfrei aufsagt: «hirnverbrannte Arschgeige», «gottverdammter Schwanzlutscher» und «Dreckswichser». Ein deutscher Kommilitone habe ihm die Vokabeln beigebracht. Die Schimpfworte sind aber auch schon der Höhepunkt an Dissidenz. Cola, der eigentlich ganz anders heißt («Aber das kann hier keiner aussprechen; Cola kennt jeder»), findet Nicolas Sarkozy gut und Angela Merkel. Und so diskutieren wir in dem gefürchteten Schuppen die halbe Nacht darüber, ob Asien eine EU braucht, wie Cola meint, über Chinas ökonomische Zukunft, über Pakistan und Indien. Irgendwann am Abend frage ich ihn auch nach den nepalesischen Maoisten, die mich besonders interessieren. Cola ist skeptisch: «Es gab mal eine Zeit, da waren sie für Nepal wichtig. Ich habe damals mit ihnen sympathisiert. Aber sie haben sich verändert. Seit sie in der Regierung sind, sind die Maoisten … wie sagt man auf Deutsch? Flachwichser!»
    Während wir uns unterhalten, kommt der Topact auf die Bühne und legt gleich los. Ich bin etwas enttäuscht, weil ich eigentlich eine Band aus Wuhan hören wollte. Doch ausgerechnet heute Abend ist der Headliner aus Peking. Die Band heißt Houhai Big Shark, und ich kenne ihre Stücke fast auswendig, weil ich sie schon ein paar Mal in Peking gesehen habe. Sie spielen guten Surfpunk, nur kann ihre extrem gut aussehende Sängerin leider immer noch nicht singen. Heute aber nehme ich ihr das nicht krumm, denn wenn sie ihre Ansagen macht, wird mir ganz warm ums Herz. Sie rollt das R am Ende der Silben, so wie wir das alle machen in Peking. Ein bisschen chinesischer, denke ich, bin ich also auf dieser Reise schon geworden. Zumindest bin ich schon mal ein Pekinger.

Die bürokratische Mumie
In der alten Stadt Jingzhou passiert fast gar nichts. Es liegen nur ganz viele Körper in der Gegend rum, die sich nicht bewegen und tot sein könnten. Ein Körper ist auch wirklich tot, und zwar schon ganz schön lange. Der Held gruselt sich trotzdem.
    Am nächsten Tag im Bus überkommt mich zum ersten Mal auf dieser Reise so etwas wie Stolz. Wuhan, denke ich, war meine erste chinesische Zehnmillionenstadt, die ich allein gepackt habe. Ich habe hier sogar erste wirkliche Kontakte zu echten Chinesen geknüpft. Ich habe Gespräche geführt, die länger als drei Minuten dauerten, und ich war mit Chinesinnen einkaufen, mit denen ich nicht verheiratet war. Auch sonst hat es mir in Wuhan gut gefallen. Für chinesische Verhältnisse eine sehr schöne Stadt, wobei ich die Schönheit von chinesischen Städten auf einer anderen, großzügigeren Skala messe als die von europäischen. Die meisten Städte hierzulande sehen nach den Modernisierungsbemühungen der letzten drei Jahrzehnte scheußlich aus, denn den modernen Chinesen scheint jeder Sinn für Proportionen zu fehlen. Wenn ich also Wuhan schön nenne, heißt das, die Stadt ist weniger hässlich als andere, ja, dass es sogar wirklich schöne Ecken gibt. Hier haben sich meine Reisebatterien wieder aufgeladen. Das einzige wirkliche Manko dieser Stadt ist die auf mysteriöse Weise verschwundene Mao-Villa. Aber weiß ich, wie viele Mao-Villen auf dem Weg nach Kathmandu noch auf mich warten?

    Offenbar habe auch ich den Wuhanern gefallen, so sehr, dass sie mich beinahe nicht mehr weggelassen hätten. Als ich gestern Abend ein Ticket für den Bus nach Jingzhou kaufen wollte, hieß es, es gäbe heute keinen Bus, der nächste führe erst

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