Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu
Francisco Bay Guardian gibt ihm das «highest rating», Cosmopolitan meint «oodles more sensation», und die New York Times schreibt: «A triumph of excess», wahrscheinlich auf ihrer täglichen Kondomtestseite. Ich muss unwillkürlich lachen und frage mich: Wer in China denkt sich so was aus? Und was für ein total verficktes Amerikabild steckt dahinter? Bester Laune gehe ich wieder runter zu den Mädchen und sage: «Ich zahle nicht mehr als hundert Stücke.» Sie sind sofort einverstanden.
Anschließend starte ich einen ersten Orientierungsmarsch. Das Allererste, was mir auffällt: Ich bin zurück in Hello-Land. Das Zweite: Ich habe die Größe der Stadt mal wieder komplett unterschätzt. Ich hatte mit einer Kleinstadt gerechnet oder mit einer mittelgroßen, weil ich im Internet Fotos von einer alten Stadtmauer gesehen hatte, aber ich laufe und laufe, und die Stadtmauer taucht nicht auf. Später finde ich heraus, dass das komplette Stadtgebiet 6,3 Millionen Einwohner hat, wovon allein 1,6 Millionen im Stadtkern wohnen. Punkt drei: Jingzhou ist zwar groß, aber keine Glitzermetropole. Hochhäuser, Einkaufsstraßen, Fernsehtürme wie in Wuhan gibt es nicht, noch nicht einmal einen McDonald’s.
Man hat hier sogar noch einige ungeteerte Straßen, und bei jedem Schritt wirbeln meine Füße kleine Wolken feinsten Staubs auf. Vereinzelt ziehen Pferdefuhrwerke durch die Straßen, und vor einer muslimischen Garküche warten angepflockt ein ponygroßer Widder und ein kleines Lamm zusammen auf das Schlachtermesser. Am Jangtse-Damm sehe ich mitten in der Stadt, vor verlassenen Fabriken aus rotem Backstein, braune Kühe mit ihren Kälbern weiden. Ich schlendere auf der Deichkrone weiter, dorthin, wo ich die Altstadt vermute, da fährt mir der Schreck in die Glieder. Durch den Dunst wankt mir ein ausgedörrtes Gerippe entgegen. Das muss die Mumie sein.
Tatsächlich ist es nur ein unglaublich magerer alter Bettler. Sein nackter Oberkörper weist einige Narben auf, und über der Schulter trägt er ein schmutziges Bündel. Als er mich sieht, stellt er sich vor mich hin, nennt mich seinen Freund und bittet mich leise um etwas Geld. Er bedrängt mich nicht, er wimmert nicht oder kniet vor mir nieder, wie das routinierte chinesische Bettler gerne machen. Also gebe ich ihm etwas, auch weil ich mich jetzt schon dafür schäme, dass ich den armen alten Mann später in diesem Buch für einen billigen Effekt benutzen werde.
Eine halbe Stunde später sitze ich auf einer zwanzig Meter hohen Mauer am Fluss, schaue auf den Jangtse und nehme gleichzeitig eine ganze Parade nackter Oberkörper ab. Braungebrannte Schwimmer in Badehosen, die am Ufer auf dem Weg zu ihrem Schwimmplatz sind. Die Mauer, auf der ich sitze, ist Teil einer alten Pagode aus der Ming-Zeit, und die Schwimmer haben mich von unten mit einem Hello-Trommelfeuer begrüßt. Sie versammeln sich alle an einer Stelle direkt unter mir, unweit einiger verrosteter Kiesschlepper, die hier vor Anker liegen. Manche haben Schwimmreifen aus Styropor dabei, die an Leinen befestigt sind, die sie um ihre Bäuche gebunden haben. Sie machen sich noch ein bisschen warm, einige testen mit den Zehen die Temperatur des Flusses, dann springen auf ein Signal hin alle gleichzeitig ins Wasser.
Das grenzt für mich an Wahnsinn, denn die Strömung ist an dieser Stelle besonders stark. Das kann selbst ich von hier oben an den Stromschnellen erkennen. Wahrscheinlich sind die so stark, weil der Jangtse an dieser Stelle einen Bogen um die Befestigungsmauern der Pagode machen muss. Der Jangtse ist aber auch sonst kein träger Fluss, wie man vielleicht aufgrund seiner ungeheuren Breite meinen könnte. Sogar hier in der Ebene strömt er sehr schnell dahin. Deshalb war es ja auch eine Sensation, als 1966 der damals dreiundsiebzigjährige Mao bei Wuhan in den Fluss sprang und sich beim Schwimmen filmen ließ. Er wollte Gerüchte widerlegen, er sei gesundheitlich angeschlagen.
Maos Schwimmvorführung war ein Erfolg auf der ganzen Linie. Bei meinen Schwimmern bin ich mir nicht so sicher, ob sie sich gegen die Fluten behaupten werden. Sie treiben sofort mit hoher Geschwindigkeit flussabwärts. Nach rund drei Minuten sehe ich sie nur noch als kleine Punkte in der Flussmitte, ausgerechnet in der Nähe von zwei großen Kohleschleppern. Nochmal zwei Minuten später sind sie aus meinem Blickfeld verschwunden. Die spinnen hier in Jingzhou, denke ich. Für kein Geld der Welt würde ich mich auch nur einen Meter weit
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