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Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu

Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu

Titel: Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Y. Schmidt
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Auch der Penis, der ganz klein und verkrumpelt auf seinem Becken liegt, sowie die separat in einem Kasten gelagerten, herausobduzierten Eingeweide hinterlassen beim Betrachter nicht den besten Eindruck. In seinem lebendigen Leben, das er im zweiten Jahrhundert vor Christus führte, hätte dieser Mann sicher einiges versucht, um eleganter aufzutreten. Zu seiner Zeit war er ein wichtiger Beamter, der selbst nach seinem Tod noch zu imponieren trachtete. Das weiß man von einem beschrifteten Bambusstab, der ihm bei der Bestattung mitgegeben wurde. In diesem Text gibt der Verstorbene «Lord Underground» nicht nur detailliert Überblick über seine momentanen Besitzverhältnisse, er stellt sich auch ordentlich mit Namen vor: «Sui, der fünfte Daifu in Shiyang, erklärt hiermit, dass er in die Unterwelt geht. Er wird von acht Sklaven, achtzehn Dienern, zwei Kampfwagen, einem Ochsenkampfwagen, vier Pferdegespannen, zwei weiteren Pferden und vier Reitpferden begleitet. Sie mögen Ihren Männern befehlen, diese zu registrieren.» Die Diener, Tiere und Wagen waren Herrn Sui allerdings nur als kleine Figuren mitgegeben worden.
    Mehr als zweitausend Jahre alt ist der Bericht, doch er gibt einen schönen Eindruck davon, wie sich die meisten Chinesen auch heute noch das Jenseits vorstellen: eine Welt, in der es im Prinzip so weitergeht wie im Diesseits, in die man Vermögen mitnehmen kann und wo man seine soziale Stellung behält. Es ist aber auch ein Zeugnis ihres tief verwurzelten Glaubens an die Bürokratie. In China muss bis heute jeder und alles Mögliche registriert werden – z. B. der Ausländer, der sich in einer chinesischen Wohnung niederlässt, innerhalb von vierundzwanzig Stunden –, da ist es nur logisch, dass man sich und seine Habe auch in der Unterwelt anzumelden hat. Sicher wird der Tote von der Jenseitsverwaltung anschließend ein Papier erhalten haben, mit zig Durchschlägen und vorzugsweise roten Stempeln, denn auch in solche Accessoires sind die Chinesen wie vernarrt.
    Herr Sui, so denke ich, als ich seine Grabkammer wieder verlasse, würde sich im heutigen China sicher schnell zurechtfinden, hätte er noch seine Eingeweide und etwas mehr Élan vital. Ich dagegen weiß nicht so genau, was ich von dem bürokratischen Jenseits halten soll. Einerseits strahlt es etwas Beruhigendes, weil Vertrautes aus. Andererseits macht mich schon ein Waschmaschinenkauf in Peking mit all seinen Laufzetteln und der ganzen Stempelei halb wahnsinnig.
    Mit ziemlicher Sicherheit war der plötzliche Anblick der viel zu gut erhaltenen Leiche nicht gut für meine Nerven. Den ganzen Nachmittag werde ich von ihrem Bild verfolgt. Es scheint sich auch irgendwie über die ganze Stadt gelegt zu haben. Überall, wo ich hinkomme, sehe ich nur Verfall, Erschöpfung und Trostlosigkeit: Aus dem Kinderspielplatz im Drei-Reiche-Park hinter dem Museum hat man eine Gotcha-Schießanlage gemacht, die aber auch schon wieder verrottet. Die Sandsäcke der Unterstände sind geplatzt, und dicke Kröten springen in von Entengrütze bedeckte, schlecht riechende Teiche. Im Freibad stehen nur ein paar grüne Brackwasserpfützen in den Becken, auf deren Grund schon kleine Sträucher wachsen, zwischen verrosteten Umwälzpumpen. Und von der Krone der Stadtmauer aus entdecke ich nahe dem Westtor ein Gefängnis. Umgeben von hohen Mauern mit verklinkerten Wachtürmen und Stacheldraht bildet es einen kleinen Stadtteil mit ganz unchinesisch verwaisten Straßen innerhalb der Altstadt.
    Das Merkwürdigste aber sind die ganzen regungslosen Körper, auf die ich stoße, als ich vom Westtor auf einem offiziell geschlossenen Teil der Stadtmauer weiterlaufe. Hier oben ist es wie im Wald, und schwarze Schmetterlinge, so groß wie kleine Vögel, flattern um Bäume, die ähnlich wie Flieder blühen. Als Erstes sehe ich einen Mann, der in einem Schacht zu schlafen scheint, der früher einmal von Wachsoldaten benutzt wurde. Er hat sich ein weißes Laken über den Körper gezogen, das auch sein Gesicht bedeckt. Ein paar hundert Meter weiter, schon in der Nähe des Nordtores, liegen zwischen welkem Laub ein chinesischer Personalausweis, diverse Papiere und mehrere Girokontokarten. Hier hat gewiss ein Räuber oder Dieb eine Brieftasche gefleddert. Gleich um die Ecke liegt auf einer Treppe ein junger Mann und schläft seinen Rausch aus. Und dann liegt ein Körper quer über dem Trampelpfad, auf dem ich schon seit ein paar Kilometern laufe.
    Das ist bestimmt ein Penner, der sich hier

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