Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu

Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu

Titel: Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Y. Schmidt
Vom Netzwerk:
in diesen Fluss vorwagen. Da kann Mao so viel darin geschwommen sein, wie er will.

    Am ersten Tag schaffe ich es nicht mehr, die Altstadt zu erreichen. Deshalb suche ich mir gleich am nächsten Morgen ein Hotel innerhalb der Festungsmauern. Diesmal nehme ich ein Taxi. Dabei stellt sich heraus, dass ich an der Peripherie von Jingzhou abgestiegen war; bis in das alte Zentrum sind es gut sechs, sieben Kilometer. Die Fahrt dorthin ist beschämend billig. Die Grundgebühr beträgt gerade mal zwei Yuan. In Shanghai fuhr ich mit elf Yuan los, in Anqing waren es vier und in Wuhan drei. Wenn das so weitergeht, zahle ich in Chengdu gar nichts mehr, und in Tibet bekomme ich noch was raus. Die Tarife sagen auch etwas über das Lohngefälle in China aus. Der Lebensstandard steigt jedenfalls nicht, je weiter man nach Westen kommt.
    Auch nicht die Verkehrssicherheit. Der Fahrer brettert wie ein Bekloppter durch die Stadt, fast immer auf dem äußersten linken Rand der Gegenfahrbahn. Nach nur zehn Minuten passieren wir einen breiten Wassergraben und fahren durch ein mächtiges Tor in der Stadtmauer. Es soll sich, so habe ich gelesen, um die am besten erhaltenen alten Stadtbefestigungsanlagen ganz Chinas handeln. Sie sind rund neun Meter hoch, zehn Meter dick und von fast zehn Kilometern Länge. Auf der Mauer rumzulaufen wäre vielleicht ein Grund, noch ein wenig länger in Jingzhou zu bleiben.

    Doch erst mal bin ich ganz heiß darauf, die Mumie zu sehen. Sie soll in einem Museum liegen, am anderen Ende der Altstadt. Das ist endlich einmal einfach zu finden. «Immer nur geradeaus auf der Hauptstraße», sagt mir die Wirtin einer Suppenküche, in der ich mich mit Nudeln stärke, die in einer leckeren fetten Brühe schwimmen, zwischen Rindereingeweidestückchen. Dafür ist die Bezeichnung «Altstadt» für das, was von den Stadtmauern umschlossen ist, übertrieben. Jingzhou soll irgendwann im dritten Jahrhundert erbaut worden sein, von dem berühmten Feldherrn Guan Yu. Doch kaum ein Gebäude ist wirklich historisch. Und anders als in Xitang hat man hier noch nicht einmal den Versuch unternommen, den alten Schein zu wahren. Hinter den Befestigungsanlagen stehen nur ganz normale Reihenhäuser und ab und zu mal ein Plattenbau, vermutlich aus den sechziger oder siebziger Jahren.
    Auch das Museum ist eine Platte, ein riesiger grau-roter Klotz mit aufgesetztem chinesischem Dach. Ich bin der einzige Besucher, und als ich durch die ersten halbdunklen Hallen mit Relikten der alten Chu-Kultur wandele, kehrt das Jonathan-Harker-Feeling zurück. Ein Museumswärter folgt mir, lauernd wie ein Vampir, in immer demselben Abstand, und bei jedem seiner Schritte macht es auf dem Steinfußboden einmal sehr laut «tack». Trotz dieser unheimlichen Inszenierung gibt es im Hauptgebäude von der Mumie keine Spur.
    Erst im Garten hinter dem grauen Trakt entdecke ich einen Wegweiser: «Delicacy Building» – steht auf Englisch drauf. Die Chinesen denken also sogar bei Mumien sofort ans Essen. Der Pfeil deutet auf ein flaches Haus an einem kleinen Teich, über dessen Eingang ich «Ausstellung des Grabes 168» lese. Auch hier ist der erste Ausstellungsraum nur diffus beleuchtet. An den Wänden hängen Fotos von Ausgrabungsstätten nahe Jingzhou, sodass ich zunächst glaube, hier bloß in die Entdeckungsgeschichte der Mumie eingeführt zu werden. Doch dann blicke ich völlig unvorbereitet in einen zwei Meter tiefen, gelb beleuchteten Schacht. Was ich sehe, versetzt mir einen kleinen Schock. Diese Mumie sieht tatsächlich anders aus als alle Mumien, die ich bisher gesehen habe: Sie ist nichts anderes als eine echte Leiche.

    Die Haut des nackten Mannes, der da in einer gelben Suppe liegt, ist nicht ledrig und eingefallen wie die der luftgetrockneten Mumien in Xinjiang. Sie wirkt frisch, feucht und weich. Selbst die Augen sind hinter den geschlossenen Lidern vorhanden. Die Ärzte, die den Mann 1975 exhumierten, stellten fest, dass er auch noch alle Zähne hat und sich seine Gelenke voll bewegen lassen. Den erstaunlichen Erhaltungsgrad des Toten erklärten sie mit einer luftdicht abgeschlossenen Grabkammer in zehn Metern Tiefe und der ungewöhnlichen chemischen Zusammensetzung des eingedrungenen Grundwassers. Vermutlich enthält es ähnliche Bestandteile wie die «international anti-virus ingredient DP 300»-Lotion im Hotel.
    Nur die Haare und die Fingernägel haben sich im Laufe der Jahre aufgelöst. Das lässt den gut erhaltenen Toten umso grässlicher aussehen.

Weitere Kostenlose Bücher