Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu
in der Abgeschiedenheit zum Schlafen hingelegt hat. Oder könnte dieser Mann nicht auch tot sein, Opfer eines Raubüberfalls zum Beispiel, auf dessen Spuren ich ja schon gestoßen bin? Das ist jedenfalls nicht ausgeschlossen. Doch was soll ich tun? In Deutschland würde ich zur Polizei gehen. Aber hier? Ich habe mein Wörterbuch im Hotel vergessen und kann noch nicht mal sagen: «Ich glaube, ich habe auf der Stadtmauer eine Leiche gefunden.» Und was, wenn es doch ein Penner ist? Ich müsste zumindest prüfen, ob der Körper da nicht doch noch atmet. Aber dann fallen mir die Schlüsselbunde auf dem Busbahnhof von Shanghai wieder ein. Also gehe ich ganz vorsichtig rückwärts und steige dann schnell die Mauer hinab. Als ich unten stehe, bin ich wieder ein Stückchen chinesischer geworden.
Am frühen Abend verliert dann auch das Bild der Mumie die Gewalt über mich. Ich sitze vor dem Südtor zwischen Wassergraben und Stadtmauer auf einer Bank und bin von mindestens zehn sehr lebendigen Leuten umgeben. Sie starren mich an, sehen mir über die Schulter ins Notizbuch, in das ich gerade schreibe, und reden über mich. Einer beugt seinen Kopf so tief über meine Notizen, dass ich nicht mehr weiterschreiben kann. Er glotzt für ein paar Minuten auf die Buchstaben und sagt schließlich: «Kan bu dong.» Das heißt wörtlich: «Ich sehe es, kann es aber nicht verstehen.» Also versuche ich es ihm zu erklären: «Das ist Deutsch.» – «Nein», sagt ein anderer, «die Buchstaben sind englisch.» – «Tatsächlich benutzen wir», erwidere ich, «dieselbe Schrift wie die Engländer.» – «Ihr sprecht also Englisch in Deutschland?» – «Nein, Deutsch. Wir Deutschen sprechen Deutsch in Deutschland.»
An diesem Punkt der Diskussion mischt sich eine weitere Expertin ein. Es ist eine mittelalte Frau in einer geblümten Bluse. Auch sie hat offensichtlich nicht ganz begriffen, um welche Sprache es hier geht, denn sie bemerkt: «Yes. English is a useful tool.» Auch wenn sie das Thema um eine Nuance verfehlt, bin ich dennoch sehr überrascht, dass die Frau, die eher einen schlichten Eindruck macht, als Einzige in der ganzen Runde fast akzentfrei Englisch spricht. Interessiert frage ich: «Wo haben Sie denn das gelernt?» – «Yes. My name is Yu Zhen Fen. English is a useful tool.» – «Das denke ich auch. Haben Sie Ihr Englisch in der Schule gelernt?» – «Yes. English is a useful tool.» Nach zwei weiteren Anläufen ist klar, dass die zwei Sätze der ganze englische Wortschatz sind, über den Frau Yu verfügt. Sie glaubt aber, er reiche aus, um mit mir anzubändeln. Auf Chinesisch fragt sie mich nach meiner Telefonnummer, und als ich ihr die nicht geben will, streichelt sie vor aller Augen meine Brust. Als sie schließlich noch am Reißverschluss meines Rucksacks zieht, um den Inhalt zu inspizieren, reicht es mir. Ich fliehe vor diesem unreinen Geist auf den Hof einer nahe gelegenen Kirche.
Tatsächlich stößt mir in der Kirche nichts weiter zu, und ich sehe auch den Rest des Abends über keine Leichen mehr. Nur ganz spät bringt sich die Mumie nochmal metaphorisch in Erinnerung, als ich mich in der Dunkelheit außerhalb der Altstadt auf die Suche nach der 318 mache. Anhand einer Karte habe ich festgestellt, dass sie direkt auf die Befestigungsanlagen zuläuft und dann den Wassergraben entlang nach Norden abbiegt. Ich hoffe, hier auf einen Kilometerstein zu treffen. Ich habe zwar bisher schon vom Bus aus etliche Steine am Straßenrand gesehen, doch ich habe noch nie direkt vor einem gestanden.
Es dauert auch nicht lange, bis ich den ersten Kilometerstein entdecke. Er steht hinter einem großen Haufen aus abgebranntem Feuerwerk, in dessen Glut noch vereinzelt fette Kracher explodieren, und zeigt 1158 Kilometer an. Ich bin etwas ergriffen angesichts der schönen, großen Zahl und berühre den Stein mit beiden Händen. Er ist noch ganz warm von der Hitze des Tages. Doch etwas stört mich auch an ihm. Er liegt mehr da, als dass er steht, denn offensichtlich hat ihn jemand angefahren. Im selben Winkel wie ein Grabstein, schießt es mir durch den Kopf. Was hat das für die restlichen 4228 Kilometer dieser Reise zu bedeuten? Es gibt nur eine Möglichkeit, das herauszufinden. Ich muss weiter!
Mopedferien am großen Damm
Ein Absatz dieses Kapitels soll an ein Shakespeare-Stück erinnern. Ansonsten zankt sich der Held viel, inspiziert den größten Damm der Welt, hört einen moldawischen Schlager und sieht einen Garfield-Film.
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