Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu
lumpen. Die ganze Stadt ist von sechsspurigen Avenuen durchzogen, an denen Verwaltungspaläste im Stil griechischer Tempel stehen, das Hong Sheng Grand Hotel im Zentrum sieht aus wie ein französisches Renaissanceschloss. Leider überschreiten die Kosten eines Zimmers in diesem neuen Versailles meinen Etat erheblich. Stattdessen nehme ich mit einer miesen Absteige vorlieb. Das Zimmer sieht aus, als habe es der oberste Höllenkönig persönlich eingerichtet und danach für ein paar Jahre bewohnt. Die Tapeten kommen von den Wänden, der rote Teppichboden schimmelt vor sich hin, und von den Pressspanmöbeln schält sich das Furnier. Das liegt an der Klimaanlage, die zwar sehr gut kühlt, aber das der Luft entzogene Wasser gleich wieder auf den Teppich rotzt, wo es einen kleinen See bildet. Ohne Aircon ist es in Neu-Fengdu allerdings auf die Dauer nicht auszuhalten. Das merke ich spätestens am Nachmittag, als ich mir die Stadt näher ansehe, weil es für die Hölle auf der anderen Seite des Jangtse schon zu spät ist. Um fünf sind hier immer noch brütende fünfunddreißig Grad. Die Läden an der Uferstraße werden sogar um diese Tageszeit noch mit vorgespannten Planen gegen die grelle Sonne geschützt. Neben dünnen weißen Glasnudeln und anderen Lebensmitteln verkauft man hier hauptsächlich Feuerwerkskörper und Räucherschnecken gegen Mücken. Tonnen von diesen Schnecken sind im Angebot; nach Einbruch der Dunkelheit muss es in Fengdu von Moskitos wimmeln.
Gegen halb sechs erwacht die Stadt so langsam aus dem Mittagsschlaf. Melonen-und Pflaumenverkäufer kommen aus den Winkeln, in denen sie die Hitze überstanden haben, und Hunderte von Schuhputzerinnen bauen auf den großen Avenuen ihre Stände auf. Ich schlendere am Fluss entlang zum neuen Busbahnhof, um mich nach meinen weiteren Verbindungen zu erkundigen. In der Schalterhalle steht eine Pinnwand mit Plakaten von spektakulären Busunfällen: Ich betrachte Fotos von vom Berg gestürzten Bussen, von Bussen mit abrasierten Dächern und anderen, die aussehen wie riesige zerquetschte Insekten. Am schlimmsten aber ist ein Foto, auf dem eine Reihe von blutigen Leichen neben einem zerschmetterten Bus auf der Straße liegt, wie eine Strecke Wildbret nach beendeter Jagd. Die Plakate sind nicht unbedingt Werbung fürs Busfahren in China, und ich frage mich, warum man die Unfälle den Passagieren zeigt, die in der Regel nicht am Steuer eines Busses sitzen. Will man die Leute fertigmachen? Rätselhaft ist auch, warum sich vor dem Busbahnhof ein Mann mir zuwendet und mit dem linken Zeigefinger und dem Daumen einen Kreis formt, durch den er mehrmals seinen rechten Zeigefinger steckt. Sicher, das ist das internationale Fickzeichen. Doch was will er mir damit sagen? Dass er mich verachtet? Ist es ein Angebot? Oder sollte es sich am Ende vielleicht doch um eine Drohung handeln, so nach dem Motto: «Pass auf, mein Lieber, in Fengdu wirst du gefickt»? Zu besonderer Vorsicht sehe ich allerdings keinen Anlass. Die Leute in Fengdu wirken so harmlos wie in jeder anderen chinesischen Stadt. Vielleicht sind sie sogar noch etwas freundlicher, so wie der Mann, den ich eine halbe Stunde später treffe. Er steht im Eingang eines Restaurants und begrüßt mich mit Handschlag und perfektem Englisch: «Hello. Willkommen in Fengdu. Du willst echten Sichuan-Feuertopf essen? Dann bist du hier richtig.» Ich überlege kurz und sage mir dann: Ja, warum eigentlich nicht? Feuertopf ist die Spezialität der Gegend, und mein Schlepper macht den Eindruck eines Intellektuellen, mit dem man sich unterhalten kann. «Mein Name ist Charles», stellt er sich vor. «Ich bin Englischlehrer an der hiesigen Senior High School.» Gleichzeitig gehört ihm auch das riesige Restaurant, das, wie er stolz erklärt, das beste in der ganzen Stadt sei.
Es muss tatsächlich sehr gut sein, denn es platzt aus allen Nähten. Besonders bei der örtlichen Jugend ist der Laden sehr beliebt, über die Hälfte des Publikums ist unter zwanzig. «Das sind», erklärt mir Charles und setzt sich dabei zu mir an den Tisch, «meine Schüler. Sie feiern heute Abend ihren Abschluss, und ich habe sie alle eingeladen. Mein Sohn ist auch dabei. Da vorne.» Er zeigt auf einen Tisch, an dem ein paar Jungs und Mädchen sitzen, und ruft etwas hinüber. «Ich habe ihm gesagt, dass er an unseren Tisch kommen soll. Da kann er mit dir sein Englisch trainieren. Aber bestell erst mal was.» Das will ich gerne tun, auch wenn ich keinen großen
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