Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu
Hunger habe. Feuertopf ist eine Art chinesisches Fondue, sodass man alles, was man will, in genau der richtigen Menge bestellen kann. Dabei werden in einer kochenden Suppe verschiedene Zutaten wie Fleisch, Gemüse, Nudeln oder Pilze kurz gegart, anschließend sofort mit den Stäbchen herausgefischt, in eine Soße getunkt und dann verzehrt. Leider kann ich aber auf dem Bestellzettel, den mir die Kellnerin übergibt, außer Schriftzeichensalat nichts erkennen. «Das macht nichts», sagt Lehrer Charles. «Dann werde ich einfach das Bestellen für dich übernehmen.» – «Das ist sehr nett. Aber bitte nicht zu viel.»
In der Zwischenzeit ist auch der Sohn, ein schmaler, bebrillter Bursche, an unseren Tisch gekommen. «Los, sag was», fordert ihn der Vater auf. «Sorry», sagt der Sohn, «ich kann nicht reden. Ich bin betrunken.» Abgesehen davon, dass er seinen Namen so undeutlich ausspricht, dass ich ihn nicht verstehe, merke ich davon nichts. Anders zwei Tische weiter. Dort ist ein schmaler Strähnchenfrisurträger aufgestanden und wankt mit erhobenen Fäusten auf einen kleinen Dicken zu, den er offenbar mit Beleidigungen eindeckt. Zwei Klassenkameraden schaffen es noch so gerade, Strähne in den Arm zu fallen. Doch obwohl die alle seine Schüler sind, schaut Lehrer Charles nicht einmal auf. Stattdessen arbeitet er sich konzentriert durch die Bestellliste und kreuzt hin und wieder eine Feuertopf-Zutat an. «Bitte bestellen Sie nicht zu viel», ermahne ich ihn noch einmal. «Mach dir keine Sorgen. Außerdem ist alles sehr billig. Als mein Gast zahlst du nur den chinesischen Preis.»
Die Auskunft freut mich, offensichtlich akzeptiert Lehrer Charles mich als angehenden Chinesen. Ein Intellektueller eben. Nur der Sohn bleibt nach seinem Eingangs-Statement sehr einsilbig. Ich glaube, er hat keine Lust, mit mir zu reden, und würde viel lieber zurück zu seinen Kumpeln. Doch wenn der Vater wünscht, dass er sich mit einem Laowai unterhält, muss er wenigstens so tun, als ob. Auch ich will den netten Lehrer Charles nicht enttäuschen und bemühe mich um Konversation. «Was willst du denn studieren?», frage ich Charles jr. – «Das weiß ich noch nicht so genau. Ich glaube: Advanced Sciences.» – «Was ist das? Irgendwas mit Computern?» – «Ja, genau. IT! Damit kann man viel Geld verdienen.»
Das ist eine sehr chinesische, aber auch eine sehr langweilige Antwort. Also konzentriere ich mich lieber auf den Streit zwischen Strähne und dem Dicken. Der ist gerade zu Ende gegangen. Strähne liegt am Boden. Daran scheint allerdings nicht der Dicke schuld zu sein, sondern Strähne selbst und die Getränke, die in ihm drin sind. Er ist ganz weiß im Gesicht und schnappt nach Luft. Seinen Lehrer bringt das immer noch nicht aus der Ruhe. Sich bis zur Alkoholvergiftung zu besaufen gehört nicht nur zu den Mannbarkeitsritualen in China, es ist auch unter erwachsenen Männern sehr beliebt. Also kein Grund einzuschreiten.
Aber vielleicht hat es Lehrer Charles auch an den Ohren. Mir hat er auf jeden Fall nicht zugehört. Das wird klar, als die Kellnerinnen damit beginnen, die Feuertopfzutaten aufzutragen: Sie bringen Lammfleischspieße, mit Hackfleisch gefüllte Nudelröllchen, Pilze, Rindfleisch, sauer eingelegten Bambus, Hühnchenteile, Wachteleier, kleine Teigtäschchen, Wurst; ich zähle insgesamt dreizehn Gerichte. Ich bin fassungslos. «Das ist viel zu viel», protestiere ich bei Lehrer Charles, nämlich genug, um vier oder fünf Leute satt zu kriegen. «Das ist», entgegnet dieser zufrieden lächelnd, «unsere chinesische Weise, die ausländischen Freunde willkommen zu heißen.»
Eine seltsame Weise. Was würde Lehrer Charles wohl sagen, käme er in ein deutsches Restaurant, wo sich der Wirt erböte, für ihn zu bestellen, und dann käme zehnmal die große Schlachtplatte, auf Kosten von Lehrer Charles natürlich? Wahrscheinlich würde er wutschnaubend aus dem Restaurant stürzen, und es käme zu einem großen Skandal, der die deutschen Medien noch wochenlang beschäftigte. Ich aber verleibe mir klaglos so viele Spieße, Teigtaschen und Wachteleier ein, wie ich nur in mich reinkriege. Lehrer Charles nutzt derweil die Gelegenheit, ausführlich von sich und seinem Restaurant zu erzählen, von Reisegruppen, die ab und an kommen und dann von seinem Essen schwärmen, oder von amerikanischen Ärzten, die einmal im Jahr im lokalen Krankenhaus aushelfen und die praktisch nirgendwo anders essen als chez Charles.
Ich will mir
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