Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu
zur traditionellen Hölle hinüber, denn dort residiert der einzige Höllenkönig, der noch übrigbleibt. Die Tempel, die hier zwischen Akazien und Kiefern stehen, wirken auf den ersten Blick wenig höllisch, sondern eher wie ein altchinesisches Idyll. Das löst sich aber auf den zweiten Blick in Wohlgefallen auf, und ich bemerke, dass sich dieser klassische Höllennachbau und der moderne Themenpark gar nicht so sehr unterscheiden. Die meisten Tempel sind nicht wirklich alt, sondern in den letzten Jahrhunderten immer mal wieder ab-, aus-oder umgebaut worden. Auch das Götter-Geister-Inventar, das einem buddhistisch-daoistisch-volksreligiösen Mischmaschkosmos entstammt, ist so schön grell und bunt wie Geisterbahnequipment auf dem Rummel. Zu allem Überfluss wird die Unterwelt von chinesischer Popmusik überflutet, die Lautsprecher sind an Sesselliftmasten montiert. Offenbar legen die Chinesen Wert darauf, bequem zur Hölle zu fahren.
Ich aber gehe zu Fuß zum Gott der Unterwelt hinauf. Dabei passiere ich die Naihe-Brücke, die nach der chinesischen Überlieferung über einen mit Blut gefüllten Teich führt, in den die bösen Verstorbenen fallen, um von Vipern und Ameisen gebissen zu werden. Im echten Teich spiegelt sich allerdings sehr hübsch die Sonne, und daneben steht ein Schild: «Ecological protection is everybody’s heart.» Kurz danach treffe ich in einem Tempel auf zwei recht verschiedene Todesboten. Die Haare des ersten, der für die Sünder zuständig ist, stehen in Flammen; der zweite sieht aus wie ein Vertreter, der an der Haustür Bücher verkauft, die «Sorge dich nicht, sterbe» heißen könnten. Er holt die guten Menschen ab. Nach diesem Tempel muss ich noch den Pass zur Hölle durchschreiten. Böse Menschen bleiben hier für gewöhnlich stecken und werden von Dämonen zerhackt, gefressen oder am Hintern tätowiert.
Guten Menschen passiert nichts, und so gelange ich ohne Probleme ins Innerste der Hölle. Das liegt auf der Spitze des Berges, von einer nachtblauen Mauer umgeben. Ich lasse den «Letzter Blick nach Hause»-Turm rechts liegen – darin weinen sich die Toten ihre Augen aus – und steuere sofort auf den Palast des Höllenkönigs zu. Bevor ich allerdings den Fürsten der Dunkelheit selbst besuche, sehe ich mir noch die Nachbildung der verschiedenen Höllengerichtshöfe an. Sie liegen in einem Wandelgang, der den Palast des Höllenkönigs umschließt, und die Darstellungen unterscheiden sich in ihrer Brutalität und Drastik nicht im Geringsten von denen in der Singapurer Hölle. Wenn das Jenseits wirklich so aussieht, dann will ich lieber nicht Chinese werden. Aber im Moment habe ich sowieso nur meine Beschwerde im Kopf. Ich betrete also in aller gebotenen Ehrfurcht den Palast des Höllenkönigs, der, wie ich auf einem Schild lese, gleichzeitig «das Verwaltungszentrum der höchsten Köpfe des Jenseits» ist. Langsam gehe ich durch ein Spalier von lebensgroßen Höllenknechten, die auf ihren schneeweißen oder dunkelblauen Körpern Pferde-oder Ochsenköpfe tragen. Hinter ihnen kommen die Verwaltungschefs der verschiedenen Höllen, mit Schreibfedern und Papierrollen in den Händen. Dann stehe ich endlich vor ihm: Yen-Lo Wang, der oberste König der Hölle, des Jenseits und des ganzen Geisterklimbims. Er trägt eine Fächerkrone und einen langen Bart und hat ein gleichgültiges Gesicht. Vor ihm ist ein mit Sand gefüllter Trog platziert, in dem dicke Räucherstäbchen stecken. Eines ist vorzeitig erloschen, und um nicht mit leeren Händen dazustehen, nehme ich es und zünde es an.
Ich trete etwas näher und beginne meine Ansprache: «Lieber Höllenkönig, da bin ich. Ich bin zwar noch nicht tot, aber wenn das so weitergeht, dauert es nicht mehr lange.» Dann trage ich ihm die Beschwerdeliste vor, die ich in der Nacht zusammengestellt habe. Sie enthält jeden, der mir auf dieser Reise bisher auf die Nerven ging, von den Wäschereifrauen in Anqing über den Mopedfahrer am großen Damm, Colonel Kurtz in Fengjie bis hin zu Lehrer Charles und dem Mönch, der mich noch gerade eben abziehen wollte. Ich führe die ganzen Hello-Schreier auf und die Restaurantbesitzer, die mich übervorteilt haben. «Doch das, mein lieber Herr Höllenkönig, ist nicht mal so schlimm. Am schwersten zu ertragen ist, dass die Chinesen mich bei sich nicht mitmachen lassen. Ich bin für sie nur so etwas wie ein komisches Tier, etwas zum Geldverdienen und zum Drüber-Lachen.»
Auch wenn dieses Lamento sicher der reine
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