Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu
Reisekoller kaum zu erklären. Doch ich habe tatsächlich eine in der letzten Nacht sorgsam ausgearbeitete Beschwerdeliste dabei, die ich dem Höllenfürsten vorzutragen gedenke. Ich weiß nicht ganz genau, was ich mir davon verspreche. Die Bestrafung der Übeltäter? Ganz sicher aber hoffe ich, dass nach meiner Meldung auf dem Rest der Reise alles besser wird.
Doch dazu muss ich den Höllenkönig erst einmal finden. Das ist nicht so einfach, wie es zunächst scheint, denn wie ich der großen Übersichtskarte am Eingang entnehme, ist er gleich mehrmals vorhanden, weil es drei große Unterabteilungen im Jenseits gibt: den «Complex of heavenly wonderland», den erst in den letzten Jahren erbauten Geisterpalast und die klassische Unterwelt auf dem Ming-Berg, in der eine Reihe von Tempeln stehen, von denen der erste aus dem Jahr 618 nach Christus stammt. Aber welcher Höllenfürst ist heutzutage der maßgebliche? Der des «Complex of heavenly wonderland» kann es nicht sein. Bei dem handelt es sich zwar erstaunlicherweise um den Höllenkönig persönlich, der als eine mehr als hundert Meter große weiße Skulptur am Berg lehnt. Diese ganze riesige Figur ist aus kleinen und größeren Gebäuden zusammengesetzt, die angeblich noch «under construction» sind. Von meiner Position aus kann ich jedoch erkennen, dass das nicht stimmt. Der Riesenkomplex ist geschlossen, weil er nie fertiggestellt wurde und schon wieder anfängt zu verrotten. Auch wenn das aus der Distanz nicht weiter auffällt, kann so etwas unmöglich der richtige Höllenkönig sein.
Also will ich ihn im «Geisterpalast» suchen, einem großen, modernen Jenseits-Themenpark, ausgestattet mit allen technischen Schikanen. Doch hier komme ich nicht weit. Auf dem Basar der Toten halten mich Händler auf, die mir «Scream»-Gummimasken, Plastiktotenschädel und nordkoreanische Kim-Il-Sung-Briefmarken verkaufen wollen. Dann greift mich kurz vorm Tor zur neuen Hölle ein buddhistischer Mönch ab. Er ist im ebenfalls neu gebauten und in den Themenpark voll integrierten Tempel des Geldgottes beschäftigt, der anscheinend auch irgendwie ins Jenseits gehört. Der Mönch benimmt sich auch sehr wie ein Höllenknecht. Er packt mich am Arm und zerrt mich vor den Altar. Ohne weiter nachzufragen, drückt er mir hier drei in dünnes Papier gewickelte Räucherstäbchen in die Hand und bedeutet mir mit einem Nicken, ich solle vor der Statue des Geldgottes beten.
Ich bin so überrumpelt, dass ich dem Befehl des Mönchs Folge leiste. Auch kann es ja eigentlich nie schaden, den Geldgott freundlich zu stimmen. Während ich mich also mit den Räucherstäbchen vor dem personifizierten Geld verneige, schlägt der Mönch mit einem Stab auf einen hölzernen Fisch ein und murmelt dunkle Sutras. Dann steckt er blitzschnell ein kleines Säckchen in die Brusttasche meines Hemds, nimmt mir die Stäbchen wieder ab und zündet das Papier an, in das sie gewickelt waren. Zum Schluss des ganzen Zinnobers überreicht er mir ein großes Buch mit rot gefärbten Seiten: «Schreib hier jetzt deinen Namen rein.»
Okay, ich kann mir schon denken, was das soll, auch wenn das Buch nur voller chinesischer Zeichen ist, aber hinter denen steht jeweils eine Zahl. Meistens 199, und ich schätze mal, das ist die Summe, die der Mönch für das Ritual von mir erwartet. Und richtig: «Schreib hinter deinen Namen», sagt er mir, «jetzt auch noch eine Zahl.» Ich schreibe nur eine 9 hin, weil mir der Mönch den Blödsinn aufgezwungen hat und der ganze Quatsch auch nicht mehr wert ist. «Nein!», schreit der Mönch sofort. «Das ist keine gute Zahl!» – «Doch», beharre ich, «das ist eine sehr gute Zahl.» – «Nein!», ruft jetzt auch eine rundliche Frau, die in der Nähe auf einer Bank sitzt. «Schreib eine andere Zahl. Die Zahl hundertneunundneunzig ist sehr gut.» Und weil sie meint, dass ich nicht verstehe, steht sie auf, zieht einen Hundert-Yuan-Schein aus der Tasche und deutet damit auf den Schlitz des Opferkastens. Ich stelle mich doof und versuche, nach dem Schein der Frau zu greifen, um ihn in den Schlitz zu schieben. «Nein, nein!», schreien nunmehr Mönch und Frau zusammen. «Steck deinen eigenen Schein rein.» Nun gut, ich habe dem Geldgott ja tatsächlich neun Yuan versprochen. Ich ziehe zehn Yuan aus dem Portemonnaie und stecke sie unter den Verwünschungen der beiden in den Kasten. Dann stürme ich aus dem Tempel und verlasse auch gleich die ganze moderne Unterwelt.
Ich renne schnurstracks
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