Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu

Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu

Titel: Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Y. Schmidt
Vom Netzwerk:
gerade ein paar Nudelröllchen in den Rachen schieben, da eskaliert die Situation neben uns auf dem Fußboden. Strähne bäumt sich auf und erbricht sich lautstark, von seinen Mitschülern gestützt. Ich kapituliere. «Ich kann nicht mehr. Nichts. Kein Häppchen», sage ich zu Lehrer Charles. Der scheint mir zum ersten Mal an diesem Abend tatsächlich zuzuhören. «Vielleicht», sagt er mit nachdenklichem Gesicht, «war es mein Fehler. Vielleicht hätte ich nicht so viel bestellen sollen.»
    Nach diesem Resümee geht der Abend schnell zu Ende. Der Sohn hat Strähnes Kotzanfall genutzt, um sich von meinem Tisch zu stehlen. Auch Lehrer Charles hat es plötzlich recht eilig. «Tut mir leid, dass ich dir nicht weiter Gesellschaft leisten kann. Aber ich habe noch ein Meeting mit Kollegen.» Ich bedaure seinen schnellen Abgang nicht, denn endlich kann auch ich verschwinden. Die Rechnung für zehnmal Schlachtplatte beläuft sich auf mehr als hundert Kuai. Das ist zwar angesichts der Menge nicht teuer, doch immerhin rund vier-bis fünfmal so viel, wie ich sonst für ein Essen ausgebe. Ich kann mich auch nicht recht entscheiden, ob mich der letzte Blick, den ich auf den Fußboden des Restaurants werfe, für das viele Geld entschädigt oder nicht. Da liegt Strähne in den Armen eines Mitschülers. Seine Augen sind geschlossen, und der Kopf hängt schlaff herab. Das Bild erinnert mich an die berühmte Pietà von Michelangelo. Eventuell wird, so denke ich, aus Strähne noch einmal ein großer Performancekünstler.

    In dieser Nacht kann ich zum ersten Mal nicht schlafen, und das liegt nicht nur an der tropfenden Klimaanlage oder meinen Zimmernachbarn, die die halbe Nacht bei geöffneter Zimmertür Mah-Jongg spielen. Ich habe auch schweres Bauchgrimmen und frage mich, ob die Massenbestellung von Lehrer Charles tatsächlich aus Überschwang erfolgte oder ob es kühl kalkulierte Absicht war. Je länger ich wachliege, desto mehr neige ich der zweiten Vermutung zu, zumal sich auch Lehrer Charles’ «Einladung» an seine Schüler als Euphemismus entpuppte: Zum Schluss mussten auch sie ihre Rechnung bezahlen, was einigen nicht leichtfiel. Aus Zorn über den seltsamen Pädagogen beginne ich, statt Schäfchen all die Leute zu zählen, die mich auf dieser Reise schon über den Tisch gezogen haben oder es wollten. Ich bin bis fünf damit beschäftigt. Erst dann schlafe ich ein. Diesmal träume ich vom Fickzeichenzeiger. Er schreit mir hinterher: «Und? Habe ich nicht recht gehabt?»
    Beim Aufwachen bin ich immer noch geladen. Als Erstes ziehe ich in ein anderes, etwas besseres Hotel. Wenig später stehe ich am Fluss und warte auf eine Fähre. Ich brenne heute geradezu darauf, dass sie mich ans andere Ufer bringt, wo die Hölle auf mich wartet. Mit mir überqueren nur wenige andere Seelen den Jangtse, der sich in meiner Vorstellung in den Styx verwandelt hat. Es sind Bäuerinnen, die ihr Obst in der Stadt gegen Waschpulver und Mückentod getauscht haben. Am anderen Ufer legen wir an einer zerstörten Treppe an, die vom Boot aus nur über eine schmale Planke zu erreichen ist. Dahinter lag das alte Fengdu. Der Anblick der Trümmerlandschaft erinnert an eine antike Stadt, die man gerade ausgegraben hat und deren Fundamente in der Hitze vor sich hin glühen. Dabei ist es ja umgekehrt: Die letzten Häuser wurden vor nicht allzu langer Zeit abgerissen, und bald liegen auch diese letzten Mauerreste auf dem Grund des neuen Jangtse-Sees.
    Erst hinter dieser Stadtwüste liegt etwas höher mein Ziel oder, wie der berühmte chinesische Dichter Li Bai in einem Gedicht sagt, mein und unser aller zukünftiges Zuhause: «Alle Menschen werden eines Tages Bürger von Fengdu sein.» So ähnlich steht es auch auf einem großen Schild: «Welcome to the ghost city of Fengdu, the home to each human soul, be he Chinese or not.» Das Schild steht vor einem großen Kassengebäude, denn die Geisterstadt ist inzwischen auch eine große Touristenattraktion, die jährlich über eine Million Besucher anlockt. Manche kommen, um schon mal zu sehen, wie es ihnen im Jenseits so ergehen wird, andere wollen sich nur gruseln oder mit ein paar Mätzchen und Übungen, wie sie hier üblich sind, ihr jetziges Leben verlängern.
    Das will ich natürlich auch alles. Aber inzwischen habe ich noch einen anderen Plan: Nach dem Abend bei Lehrer Charles will ich mich beim Gott der Unterwelt über das Verhalten der Chinesen beschweren. Zugegeben, die Idee ist ohne meinen leichten

Weitere Kostenlose Bücher