Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu
Sache auch ihr Gutes. Ohne Mitfahrer werde ich auf jeden Fall weiterhin allein unter Chinesen bleiben. Das ist mir recht.
Die zweite Nachricht dagegen ist bedenklicher: «Ich habe», sagt Bart, «den Antrag für deine Permits noch nicht abgegeben.» Das ist eine herbe Enttäuschung, weil ich die Tour extra früh gebucht hatte, damit ich in Chengdu mit allen Papieren gleich weiterkann. Bart erklärt jetzt, dass wegen der Basecamp-Proteste kürzlich eine neue Regelung in Kraft getreten sei, nach der Anträge auf Permits nur noch maximal zehn Tage vor Antritt der geplanten Reise gestellt werden können statt wie bisher Wochen oder Monate vorher. «Alles sehr, sehr schwierig im Moment», meint mein Führer in spe. Konkret heißt das für mich: zehn weitere Tage Unsicherheit, ob nicht doch eine der drei Behörden mich für einen Journalisten oder für etwas Schlimmeres hält. Dann wäre meine große 318-Expedition gescheitert, nach nur gut der Hälfte der ganzen Strecke.
Zehn Tage ausgerechnet in Chengdu, das sich bei genauerem Hinsehen als die unansehnlichste von den bisher besuchten Megastädten entpuppt. Shanghai hat den Bund und prächtige Kolonialgebäude, Wuhan den Jangtse und riesige Seen mitten in der Stadt, und Chongqing wirkt auch deshalb so imposant, weil es über zwei Flüssen auf einem Hügel steht. Doch Chengdu hat rein gar nichts. Ein wenig erinnert mich die Stadt zwar an Peking. Sie liegt in einer Ebene, weshalb man problemlos große Boulevards anlegen konnte. Wie in Peking führen mehrere Autobahnringe um die Stadt herum, wobei Chengdu allerdings nicht sechs hat, sondern nur drei. Auch ist es ähnlich staubig. Doch das ist auch schon alles an Parallelen. Chengdu ist 2300 Jahre alt, aber anders als in Peking ist hier von dieser Geschichte nichts mehr zu sehen. Alle alten Häuser wurden in den letzten Jahren abgerissen und durch Standard-Shoppingmalls, Office-Türme und Wohnhochhäuser ersetzt. Auch die zwei Flüsse, die die Innenstadt umfließen, reißen es nicht raus. Sie sind komplett eingemauert und wirken auf den Betrachter ungefähr so idyllisch wie der Datteln-Hamm-Kanal oder der Britzer Zweigkanal.
Selbst das große Mao-Denkmal, das auf dem zentralen Tianfu-Platz steht, haben die Chengduer verschandelt. Im Sockel ist das Fastfoodrestaurant Popeye untergebracht; als ob der große Vorsitzende besonders viel Spinat gegessen hätte. Doch am schlimmsten sieht Chengdu tatsächlich dort aus, wo man versucht hat, es im alten Stil wieder aufzubauen. Am Rand des Wuhou-Tempels im Süden der Stadt gibt es eine solche Straße. Hier finden sich Teehäuser, Souvenirläden, Snackstände, Bars dicht an dicht. Auf Altchinesisch kostümierte Schlepper versuchen die Passanten in Restaurants zu locken, in denen Promotion für Absolut Vodka läuft. Diese neuen Viertel im Ming-Qing-Fantasy-Stil schießen in China momentan wie Unkraut aus dem Boden. Sie legen Zeugnis davon ab, dass das Land keine großen ökonomischen Probleme mehr hat, dafür aber schnurstracks auf eine gewaltige ästhetische Katastrophe zusteuert.
Ich jedenfalls finde diese Straße so abscheulich, dass ich aus Protest auch nicht in den benachbarten Tempel gehe. Stattdessen fahre ich zu Du Fus Hütte weit im Westen der Stadt, außer dem Volkspark in der Stadtmitte praktisch die einzige wirkliche Sehenswürdigkeit in Chengdu. Du Fu, im Jahr 712 geboren, ist der größte, nein, wohl doch eher der zweitgrößte Dichter Chinas, und seine Hütte – natürlich auch nur ein Nachbau, allerdings bereits aus dem 16. Jahrhundert – steht in einem schönen großen Park.
Hier ist vom restlichen Chengdu glücklicherweise nichts zu sehen. Dafür wandele ich zwischen hohen Bambushecken, Pagoden, Pavillons, lotosbedeckten Teichen und künstlichen Wasserfällen, vor denen junge Frauen chinesische Zither spielen. Die schilfgedeckte Fachwerkhütte selbst steht sehr idyllisch an einem kleinen Teich, in dem fette Goldfische schwimmen. Hundert Meter weiter sind in einer Halle die Reste der Grundmauern der angeblich echten Hütte zu besichtigen, die erst Ende 2001 ausgegraben wurden. Und zwischen beiden Attraktionen liegt ein Miniaturgarten, in dem der Besucher ausgewählte Gedichte des «über alle Maßen hervorragenden Dichters», dessen «echte Gefühle direkt aus dem Herzen kamen», in Holzblöcke geschnitten, nachlesen kann.
Und tatsächlich lesen die Chinesen. Ich sehe Hunderte von ihnen andächtig Du Fus Gedichte studieren – Gedichte, die immerhin mehr als
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