Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu
versprochen hat. Das hatte ich auf dieser Reise noch nicht, sieht man einmal von der kurzen Episode in Frau Colonel Kurtzens Rumpffamilie ab. Und tatsächlich soll ich Familienanschluss bekommen. Am Abend versammeln sich das Mädchen, ihr Freund, die Mutter, der Großvater und zwei Tanten auf der Terrasse vor dem Haus und warten Mah-Jongg spielend auf das Essen. Das kocht der Vater, der auf seinem Oberkörper nichts anderes trägt als Hunderte von Mückenstichen. Es gibt Tofu, Bohnen, Zwiebeln, Wintermelonensuppe, Reis und dazu ein Verhör durch den halbnackten Vater. Als er mich auf vierzig schätzt und mir partout mein wahres Alter nicht glauben will, werfe ich meinen Führerschein auf den Tisch. So erfährt er, dass ich Deutscher bin. «Xitele», schreit der Vater sofort begeistert. Immerhin geht dieses Mal nicht der Arm hoch, sondern nur der Daumen.
Das ist jetzt das vierte Mal auf dieser Reise, dass jemand den Führer hochleben lässt. Erst Xitang, dann Yingshan und Chongqing, dort war in einem Fotoladen, in dem ich mir DVDs brennen ließ, der Arm gar nicht mehr runtergegangen. Und jedes Mal war ich schlecht vorbereitet. Auch jetzt winke ich nur müde ab und sage: «Xitele bu hao», was so viel heißt wie: «Hitler nicht gut.» Könnte da das Goethe-Institut nicht mal was machen? Zum Beispiel eine Milliarde Flugblätter drucken lassen, auf denen man den Chinesen in einfachen Worten erklärt, dass dieser Herr Xitele nicht nur ein großer Verbrecher war, sondern im Zweiten Weltkrieg auch ein großer Freund und Bundesgenosse der Chinesen metzelnden Japaner? Das wäre sicher sinnvoller, als immer nur Juli Zeh oder DJ Fix und Foxi nach Peking einfliegen zu lassen.
Ich habe jedenfalls bald genug davon, das deutsche Schneewittchen bei den sieben Hitlerzwergen zu spielen, und ziehe mich recht früh in meine Tropfsteinhöhle zurück. Hier liege ich lange auf der feuchten Bettwäsche und lausche Milliarden von Zikaden, die draußen im subtropischen Bambuswald vor sich hin kreischen. Nur ab und zu wird dieser Lärm von der durchdringenden Quäkstimme des Hitlervaters unterbrochen, der lautstark das Fernsehprogramm kommentiert. Später setzt starker Regen ein. Offenbar ist Regen das Pflichtwetter an allen religiösen Stätten Chinas.
Der nächste Morgen beginnt unter besseren Vorzeichen. Es nieselt nur noch, und ich kann in aller Frühe aus meiner Gruft entkommen, ohne dass mir der Hitlervater noch einmal über den Weg läuft. Hinter dem Eingangstor zum Berg ist es dann wie in einer chinesischen Märchenwelt. Hohe, dunkle Bäume stehen dicht an dicht, und dazwischen führt ein kleiner Fußweg nach oben, der in eine Treppe mündet. Ich hatte eigentlich einen Shuttlebus erwartet wie in Jiu Hua Shan, und so stehe ich mit meinem knapp zwanzig Kilo schweren Rucksack auf dem Rücken dumm da. Doch Laozi sagt: «Also auch der Berufene: Er wandert den ganzen Tag, ohne sich vom schweren Gepäck zu trennen», und also ächze ich schwer beladen die Treppen hoch.
Zum Glück dauert der Aufstieg keinen Tag. Schon nach einer knappen halben Stunde stehe ich auf einer Fähre, die über den Mondstadtsee gleitet; vollkommen lautlos, weil sie an einer Kette von einem Ufer zum anderen gezogen wird. Die hohen, nebelumwaberten Berge ringsherum sehen jetzt aus wie auf einer alten chinesischen Tuschezeichnung. Am anderen Ufer besteige ich dann glücklich einen daoistischen Sessellift und schwebe über den Nebelwald ein paar hundert Meter hoch zum Shang Qing Gong, dem Palast der höchsten Reinheit.
Der Palast ist eigentlich ein Kloster, das den «drei Reinen» gewidmet ist, den drei höchsten daoistischen Göttern. Doch man unterhält auch einen kleinen Pensionsbetrieb für Pilger, die wie ich nach dem Daoismus hungern. Hier miete ich mich ein. Das Zimmer ist nicht ganz so prächtig wie das im Buddhismus-Hotel in Jiu Hua Shan. Dafür ist es in die Klosteranlage integriert, und ich kann von dem langen Gemeinschaftsbalkon vor meiner Zimmertür auf vierhundert Jahre alte Ginkgobäume und Zedern sehen, deren Spitzen in die Wolken ragen. Ich bin sofort begeistert und notiere in meinem großen Buddhismus-Daoismus-Vergleichsjournal einen Punkt für den Daoismus.
Es wird an diesem Tag noch ein paar Punkte für den Daoismus geben. So gefällt mir das Kloster, das ich am Nachmittag erkunde, besser als das meiste, was ich auf Jiu Hua Shan gesehen habe. Es wurde ursprünglich während der Jin-Dynastie (265 – 420 n. Chr.) an den Hang gebaut, danach aber
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