Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu
Dichterleben nähren in mir nämlich den Verdacht, dass in China nur ein wirklich großer Dichter werden kann, wer ordentlich leidet und am besten noch dieser Misere irgendwann selbst ein Ende setzt. Ich glaube zwar nicht, dass diese Bedingungen für große Dichtung tatsächlich relevant sind, doch das chinesische Publikum scheint ein elendes Leben von seinen Dichtern geradezu zu fordern. Nur dann sind sie auch der Verehrung würdig. Ob das wohl auch für Sach-und Reisebuchautoren gilt? Wenn ja, wäre das natürlich noch ein gravierender Grund, der gegen das Chinesischwerden spräche.
Von Mao zu Dao
Endlich wird es mal esoterisch. Der Held geht ins Kloster und hebt direkt neben dem Wald der Langlebigkeit ab. In weiteren Rollen: Juli Zeh, Adolf Hitler, Laozi, DJ Fix, DJ Foxi, der Gelbe Kaiser und die Weltraumsonde Voyager 2.
Mein Zwangsaufenthalt in Chengdu hat aber auch etwas Gutes. Ich kann in aller Ruhe meinen großen Buddhismus-Daoismus-Vergleich zu Ende bringen. Qingcheng Shan, der Azurstadtberg, einer der heiligen Berge des Daoismus, liegt nur sechzig Kilometer westlich der Stadt, am äußersten Rand eines Gebirges, das sich dahinter immer weiter auftürmt, bis es irgendwann zum Himalaja wird. Hierhin breche ich nach drei Tagen auf, vorläufig das letzte Mal allein. Mit Bart vereinbare ich, dass wir in SMS-Kontakt bleiben. Er soll mir sofort Bescheid geben, wenn er die Papiere hat.
Allerdings will ich hier gleich einräumen, dass ich nicht völlig unbelastet nach Qingcheng fahre. Ich habe immer noch das «Dao De Jing» des großen Laozi dabei, «Das Buch vom Sinn und Leben», zumindest nach der Übersetzung des Sinologen Richard Wilhelm. Es ist über zweitausendfünfhundert Jahre alt und gilt als die Bibel des Daoismus. Seltsamerweise ist es aber kein religiöses, sondern ein philosophisches Werk. Es handelt unter anderem davon, dass das Dao – eine nicht wirklich zu definierende Substanz oder Energie – immer schon da war, vor jedem Gott, vor jeder Materie oder vor jedem Menschen, und alles am Ende zu ihm zurückkehren wird. Ich habe in diesem Buch auf meiner Reise immer wieder gern gelesen, weil man es auch ganz praktisch nutzen kann. Auf dem Jiu-Hua-Berg half es mir bei den schweren Regenfällen, mich zu entscheiden, und wenn ich mich gelegentlich allein fühlte, war es ein echtes Trostbuch. «Der Berufene», schreibt Laozi, «mag er auch alle Herrlichkeiten vor Augen haben: Er weilt zufrieden in seiner Einsamkeit.»
Im Westen ist diese «Religion» recht unbekannt, in China hat sie weniger Anhänger als der Buddhismus. Auch der zugehörige heilige Berg ist kleiner als der Jiu Hua Shan, wo ich vor zwei Monaten den Buddhismus gründlich testete. Statt der neunundneunzig Gipfel hat er nur sechsunddreißig. Dafür ist der buddhistische Berg nur eine AAAA-Touristenattraktion (die höchste innerchinesische Wertung), Qingcheng Shan aber Weltkulturerbe. Außerdem wurde auf dem Berg die daoistische Religion begründet. Das ist schon mal ein großer Pluspunkt, denn um zum Ursprungsort des Buddhismus zu gelangen, müsste ich bis nach Indien fahren.
Mein positives Vorurteil wird allerdings gleich einer harten Prüfung unterzogen, als mich der Bus auf dem Parkplatz vor dem Eingangstor zum Berg ausspuckt. Es ist verschlossen. Offensichtlich ist es zu spät, um noch den Gipfel zu besteigen. Eigentlich hatte ich geplant, dort billig in einem daoistischen Kloster zu wohnen. Am Fuß des Berges aber sind die Hotels so teuer wie noch nie auf dieser Reise. So lasse ich mich entgegen allen Vorsätzen noch einmal in eine Privatunterkunft abschleppen. Vielleicht liegt es auch daran, dass die Schlepperin ein junges hübsches Mädchen ist, das ein blaues T-Shirt trägt, auf dem «This movie is presented by: Walt Disney Productions» steht.
Das kleine Haus, zu dem sie mich führt, steht eigentlich recht malerisch inmitten eines Haines dicker Bambusstauden. Doch das Eternitdach ist vom vielen Regen schon ganz schwarz, und das Zimmer lässt mich meinen Entschluss sofort bereuen. Es ist so feucht wie eine Tropfsteinhöhle. Die Bettwäsche fühlt sich klamm an, und im Bad ist nur ein Loch im Boden, sonst nichts, noch nicht einmal ein Spiegel. «Ich mag das Zimmer nicht», sage ich dem Mädchen und will am liebsten wieder gehen. «Was willst du eigentlich?», antwortet sie. «China ist schließlich ein Entwicklungsland.» Da gebe ich mich geschlagen.
Ich bleibe auch, weil mir Miss Disney «Leben in einer chinesischen Familie»
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