Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu
Gründung der Volksrepublik China der erste Ausländer in dieser Stadt? Greifen meine in Fuling getroffenen Vorsätze? Oder sind das hier einfach nur die sprichwörtlich guten Menschen von Sichuan?
Ich habe noch keine wirkliche Erklärung, da werden am Abend die guten Menschen noch viel besser. In einem zur Straße hin offenen Eckrestaurant bittet mich eine Gruppe Männer an ihren Tisch. Ich kriege schnell heraus, dass es sich um die örtlichen Honoratioren handelt. Sie bemühen sich sehr, mit mir ins Gespräch zu kommen, aber leider beherrschen sie nur zwei Wörter Englisch: «Cheers» und «Boss». Mit diesem Ehrentitel werden mir am Tisch drei der Männer vorgestellt: der Hotel-Boss, der Polizei-Boss und der Supermarkt-Boss. Dabei machen alle drei auf mich nicht unbedingt einen Boss-Eindruck. Der Hotel-Boss, der, wie ich erfahre, das große Hotel besitzt, in dem ich wohne, ist ein kleiner, lustiger Dicker und trägt ganz gewöhnliche Kleidung. Der hagere Supermarkt-Boss hat eine Nickelbrille auf der Nase, kastenförmig geschnittene Haare und vorstehende, schiefe Zähne, und der Polizei-Boss ähnelt mit kahlrasiertem Schädel und nacktem Oberkörper eher einem krawallverliebten Skinhead als einem Mann, der für Recht und Ordnung steht.
Diese Bosse und ihr Gefolge tun so, als seien Brad Pitt, Bruce Willis und Tom Hanks in Personalunion nach Lezhi gekommen, und die Personalunion bin ich. Man schaufelt mir scharfe Sichuan-Leckerbissen auf den Teller und bestellt mir Bier. Der Supermarkt-Boss fragt mich, ob ich schon die größte Attraktion der Stadt, das Chen-Yi-Museum, besichtigt habe. «Sicher», sage ich und bringe die paar chinesischen Floskeln ins Spiel, die ich beherrsche. «Der Genosse Chen Yi war ein Freund von Mao Tse-tung. Auch ich liebe den Vorsitzenden Mao.» Die Antwort stellt alle am Tisch zufrieden. «Dieser Mann ist», sagt der Polizei-Boss und nickt bewundernd in meine Richtung, «ein echter Zhongguo Tong» – ein China-Meister. So werden nur Ausländer genannt, die sich große Kenntnisse über China erworben haben, die meist auch perfekt Chinesisch sprechen und sich mit all ihrer Kraft für das Land einsetzen.
Ein solcher Mann hat natürlich noch einen größeren Empfang verdient. Der Hotel-Boss versucht hektisch, mir etwas zu sagen, und rennt dann los. «Er holt seine Frau», sagt der Supermarkt-Boss. «Du wirst staunen. Sie ist die schönste Frau der Stadt.»
Tatsächlich ist Frau Boss eine echte Sichuan-Schönheit mit leuchtenden Augen, hohen Wangenknochen und brauner Haut. Doch leider hat sie heute Abend Bauchschmerzen und will am liebsten sofort wieder nach Hause. Das geht natürlich nicht, wenn einer der berühmtesten Ausländer Chinas mit dem Hotel-Boss persönlich tafelt. Als sie nach einer knappen Stunde den Empfang dann doch verlassen darf, telefoniert der Hotel-Boss sofort Ersatz herbei. Die Tochter seiner Schwägerin ist ein junges Ding, das angeblich Englisch kann, weil es in Chongqing Englisch studiert. «Sie wird jetzt übersetzen», sagt der Hotelier. Bedauerlicherweise beherrscht die junge Verwandte aber auch nicht viel mehr Vokabeln als die Honoratioren hier, aber eigentlich macht das nichts. Ich komme jetzt sowieso kaum noch zum Reden, da ich die ganze Zeit damit beschäftigt bin, für Fotos zu posieren. Alle Kellnerinnen wollen eins haben, auf dem der große, weise Chinareisende den Arm um ihre Schultern legt, die Kellner ebenfalls, dann auch der Wirt und zufällig vorbeikommende Passanten. Natürlich wird jeder Boss mehrmals mit mir zusammen fotografiert, bis auf den Polizei-Boss, der seine Uniform anzieht und nochmal auf Streife geht, als er sein letztes Bier ausgetrunken hat.
Ich dagegen schaffe es nicht, mein Glas zu leeren. Jedes Mal, wenn es zur Neige geht, wird mir von einem der Herren am Tisch nachgegossen. Erst als weit nach Mitternacht der Polizei-Boss wiederkommt und die anderen mit irgendwelchen Räuberpistolen ablenkt, kann ich unbemerkt das Bier in einem Zug hinunterstürzen. Ich will auch gleich die Chance zum Bezahlen nutzen, doch das darf ich schon wieder nicht. Offenbar ist Lezhi für Ausländer eine bargeldlose Zone.
Nach einigem Protest gestattet man mir allerdings, mich zurückzuziehen. Trotz der späten Stunde lässt es sich der Hotel-Boss nicht nehmen, mich in sein Hotel zu bringen. Dabei muss uns seltsamerweise die Tochter der Schwägerin begleiten. «Wie findest du sie?», fragt der Hotel-Boss, und obwohl ich seine Frage verstanden habe, soll das
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