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Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu

Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu

Titel: Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Y. Schmidt
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tausend Jahre alt sind – und Tausende ehrfürchtig seine Hütte besichtigen. Auch Mao Tse-tung, selbst ein großer, nicht nur von seinen Anhängern anerkannter Dichter, hat 1958 dem großen Du Fu seine Reverenz erwiesen und sich dabei ausnahmsweise mal von hinten fotografieren lassen, in die Betrachtung einer Kalligraphie aus der Qing-Zeit versunken, die den Weg zu Du Fus Hütte weist.
    Die allgemeine Bewunderung für den Dichter ist umso erstaunlicher, als er zu seinen Lebzeiten recht erfolglos war; ein Umstand, der von Chinesen normalerweise nicht besonders geschätzt wird. Wie außerordentlich elendig sein Leben war, erfahre ich im Du-Fu-Museum, in dem seine Leiden mit großer Liebe zum Detail auf Bildern ausgemalt und in lebensgroßen Panoramen dargestellt werden. Die erste Katastrophe ist, dass Du Fu nicht Beamter am Hofe des Kaisers werden kann, weil ein intriganter Höfling dafür sorgt, dass der begnadete Dichter durch die Beamtenprüfung rasselt. Nach jahrelangem Kampf bekommt Du Fu schließlich doch noch einen Posten, denn der Kaiser hat Wind von der Intrige bekommen und interveniert. Doch gerade in dem Moment, in dem er seine Stelle antreten soll, bricht eine große Rebellion im Lande aus, und Du Fu bleibt weiter arbeitslos. Von nun an geht es Schlag auf Schlag. Erst stirbt Du Fus Sohn an Hunger, dann wird der Dichter von den Rebellen gefangen genommen. Er kann sich zwar befreien, doch mittlerweile leidet er an schwerem Asthma, zu dem sich obendrein Malaria gesellt. Im Jahre 760 kann er sich schließlich aus den Rebellengebieten nach Chengdu durchschlagen, wo er sich in einem Sumpf mit eigenen Händen eine ärmliche Hütte baut. Doch noch nicht einmal hier lässt ihn das Schicksal in Ruhe. Mehrmals wird die Hütte von Naturgewalten zerstört, was Du Fu in tiefe Verzweiflung stürzt. Ein typisches Gedicht aus dieser Zeit ist «Der leere Beutel», ein großes Lamento über die Menschheit und die eigene Armut. Ein Auszug:
Die Menschen der Welt
sind alle roh und verdorben.
Der Weg, den ich geh,
ist elend und mühsam geworden.
Hab nichts zu kochen,
zu Eis hat der Morgen den Brunnen gemacht.
Hab keine Kleider.
Kalt ist das Bett in der Nacht.
    Gegen Ende seines Lebens ist der Dichter halb blind und taub. Trotzdem segelt er noch einmal den Jangtse hinunter. Ausgerechnet im Regenloch Bai Di Cheng bei Fengjie bleibt er für fast zwei Jahre hängen. Kurz danach stirbt Du Fu im Alter von nur neunundfünfzig Jahren, wenig geschätzt und immer noch relativ unbekannt.
    Nun ist es vielleicht nicht ungewöhnlich, dass eine Nation einen unglücklichen Dichter bewundert. Irritierend ist allerdings, dass in China praktisch alle verehrten Dichter eine tragische Biographie zu haben scheinen. Das lerne ich, als ich mir in der Mitte des Parks die Halle der großen Dichter ansehe. Hier stehen lebensgroße Statuen der zwölf bedeutendsten Poeten Chinas. Dahinter hängen ihre Lebensläufe an der Wand, und nachdem ich sie gelesen habe, möchte ich mit keinem dieser Leute tauschen. Qu Yuan (340 bis 278 vor Christus), der erste urkundlich erwähnte Dichter Chinas, begeht Selbstmord aus Protest gegen die Korruption seiner Zeit. Li Qingzhao (1084 – 1151), die erste Dichterin von Rang, stirbt gramgebeugt, weil sie über den frühen Tod ihres Mannes nicht hinwegkommt. Lu You (1125 – 1210) wird zwar sehr alt, quält sich aber zeitlebens damit, dass er sich auf Druck seiner Mutter von seiner großen Liebe scheiden ließ und eine andere Frau nahm. Und selbst Li Bai, der ein Zeitgenosse Du Fus war und als größter Dichter Chinas gilt, geht am Ende seines äußerlich glücklich scheinenden, dionysischen Lebens ins Wasser.
    Überhaupt zieht sich Selbstmord wie ein blutroter Faden durch chinesische Dichterbiographien – bis heute. Zhu Xiang, ein revolutionär gesinnter Dichter, bringt sich 1933 mit nur 29 Jahren um. Hai Zi legt sich im Frühjahr 1989 in Peking auf die Schienen und lässt einen Zug über sich hinwegrollen. Sogar chinesische Dichter, die das Land verlassen, entkommen ihrem Schicksal nicht. Gu Cheng, wie ich 1956 geboren und nach Neuseeland emigriert, hängt sich im Oktober 1993 auf, nachdem er seine Frau mit der Axt erschlagen hat. Ich würde auf jeden Fall öfter einmal klingeln, wenn ich einen chinesischen Dichter in der Nachbarschaft wohnen hätte, und fragen, wie’s geht.
    Als ich Du Fus Hüttenpark wieder verlasse, bleibt trotz seiner Schönheit ein zwiespältiger Eindruck zurück. Die ganzen unglücklichen

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