Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu
wie üblich immer wieder umgebaut und verändert. In der Form unterscheidet es sich nicht sehr von buddhistischen Klöstern. Aber man geht mit Gold bescheidener um, und es dominieren dunkle Farben. Stütz-und Dachbalken sind mit hübsch geschnitzten Szenen verziert, die viehhütende Bauern zeigen, Rehe, die den Berg hinabspringen, oder Kraniche im Flug. Auch das Taiji, das Yin-und-Yang-Symbol, das die Dächer der Tempel krönt, gefällt mir besser als das Hakenkreuz der Buddhisten. Doch das mag daran liegen, dass ich immer noch unter dem Eindruck des Hitlervaters stehe.
Die daoistischen Mönche im Palast der höchsten Reinheit bekommen gleich zwei Punkte. Zwar sind sie mindestens so geschäftstüchtig wie die Buddhisten. Am Laozi-Altar verkauft ein Mönch ein Dreier-Räucherfackelset für stolze zwanzig Kuai, und diese Verehrungsmunition geht so schnell weg, dass er kaum dazu kommt, die Plastikfolie abzureißen. Doch niemand versucht hier, mir Geld abzupressen, oder zerrt gar an mir rum. Den zweiten Punkt gibt’s für die Musik, mit der der Innenhof vor dem Laozi-Altar beschallt wird. Ein DJ-Mönch wechselt regelmäßig die CDs. Die Mönche vom Qingcheng-Berg sind berühmt für ihren daoistischen Ambientsound, der hat es sogar ins Weltall geschafft. Eine CD mit den Kompositionen eines Qingcheng-Mönchs befindet sich seit 1977 an Bord der amerikanischen Sonde Voyager 2, die momentan an der Grenze unseres Planetensystems herumtrudelt. Vielleicht ist der Dao-Sound bereits in irgendwelchen Aliencharts.
Nur die Haartracht der Dao-Mönche ist gewöhnungsbedürftig. Männer wie Frauen haben extrem lange Haare, aber nur, um sie auf dem Kopf zu einem Dutt zusammenzubinden. So sehen alle mehr oder weniger aus wie Omas. Dafür ist ihre Kleidung sehr viel besser. Statt der ewig gleichen buddhistisch roten Kutten trägt man zu schneeweißen Seidenanzügen schwarze Schuhe und Gamaschen. Das verleiht den Mönchen eine gewisse esoterische Eleganz. Sie wirken distanziert, sind aber gar nicht überheblich. Man nickt mir kurz zu, wenn ich vorbeigehe, und ein Mönch lächelt mich sogar huldvoll an, während er sich mit einem Fächer aus weißen Federn Luft zufächelt. Unter Buddhisten ist mir das nicht passiert.
Der Hauptgrund für meine Sympathie für den Daoismus aber ist und bleibt das schlaue «Dao De Jing». Seinen Autor treffe ich am frühen Abend, als ich noch einmal schnell auf den nahe dem Palast gelegenen Qingcheng-Gipfel steige. In einem hohen Pavillon steht hier eine riesige Laozi-Skulptur, die den Urdaoisten zeigt, wie er auf einem Ochsen reitet. Die Skulptur ist sehr neu und fast buddhistisch golden, monströs und protzig. Doch heute ist der Turm glücklicherweise in so dichten Nebel gehüllt, dass der übertriebene Glanz angenehm gedämpft wird. Die Legende besagt, dass Laozi vor über zweitausendfünfhundert Jahren auf dem Rücken eines schwarzen Ochsen am Hang-Gu-Pass auftauchte, der damals an der Westgrenze des Staates Chu lag. Der Grenzbeamte erkannte den großen Meister und bat, dieser möge ihm etwas Schriftliches überlassen. Da schrieb Laozi kurzerhand das «Dao De Jing» nieder, gab es seinem Bewunderer und ritt dann auf dem Ochsen weiter Richtung Westen.
Niemand weiß, wo er geblieben ist, denn gesehen wurde er nach dieser Episode nie wieder. Zuvor allerdings wohl auch nicht. Die Wissenschaftler sind sich ziemlich einig, dass es sich bei Laozi um eine Figur der Legende handelt, die nie gelebt hat. Trotzdem möchte ich die Geschichte mit dem Ochsen gerne glauben. Schließlich bin ich in derselben Richtung unterwegs. Das macht ihn zu meinem unsichtbaren Reisegefährten, und dafür vergebe ich für heute meinen letzten Punkt an den Daoismus.
Ich will mich zum Gehen wenden, denn es beginnt langsam zu dämmern. Da höre ich plötzlich ein unheimliches Geräusch. Es klingt so, als ob ein feiner Regen einsetzte. Und tatsächlich. Allerdings regnet es kein Wasser, sondern lange Stabheuschrecken, die sich zu Tausenden von den Bäumen auf den Boden fallen lassen, wie in einem Horrorfilm. Nur sind diese lebenden Äste harmlos und müssen letztlich selber leiden. Weil sie dicht an dicht über den Boden kriechen, kann ich leider nicht vermeiden, immer wieder einige von ihnen zu zertreten. Was für dumme Kreaturen, denke ich, die hier ohne Sinn und Verstand einen auf Kamikaze machen. Aber dann setzt ein echter, gewaltiger Platzregen zehn Minuten nach dem Insektenregen ein. Die Heuschrecken hatten den Regen offenbar
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