Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu
Tagen habe ich immer wieder mit einigem Wohlgefallen die tibetischen Häuser am Straßenrand betrachtet. Sie sind viel schöner als alles das, was im Rest von China an neuer Architektur so rumsteht. In diesem Dorf sehen sie aus wie mittelalterliche Burgen, die mit kleinen Türmchen und großen Dachterrassen ausgestattet sind. Aber selbst die neuen Geschäftshäuser in Tagong waren aus Naturstein und passten in die Landschaft. Neue chinesische Häuser dagegen sind immer gleich kastenförmig und haben im Erdgeschoss ein großes Ladentor, das mit dem immer gleichen Rollladen verschlossen wird. Allerdings gibt es in diesem schönen Dorf Strom nur aus Autobatterien und keinen Handyempfang. Das erlebe ich zum ersten Mal in China. Selbst mitten in der Taklamakan-Wüste in Xinjiang oder im Altaigebirge an der Grenze zu Sibirien hatte ich bisher telefonieren können.
Für Chinesen ist die Vorstellung, vom Netz abgeschnitten zu sein, unerträglich, und so schlägt mir Bart vor, auf einen Berg zu steigen, wo, wie unsere Wirtsfamilie behauptet, telefonieren möglich sein soll. Ich willige ein, obwohl ich keine Ahnung habe, ob mir bei einer Höhe von knapp viertausend Metern über dem Meeresspiegel überhaupt die Beine gehorchen werden. Wir durchqueren das Dorf, wo man uns nicht mehr «Hello» nachruft, sondern «Tashi Delek», das tibetische «Guten Tag». Am Ufer eines schmalen Flusses liegen Unmengen weggeworfener Schuhe und ein paar halbverweste Yak-Schädel; einige tibetische Ponys, die dazwischen grasen, schauen uns verwundert nach. Auf einem kleinen Trampelpfad kommen wir dann erstaunlich gut den Berg hinauf, bis Bart irgendwann findet, wir könnten die Serpentinen des Weges auch abkürzen. «Klettern wir den Berg doch einfach gerade hoch.» Fünf Minuten später haben wir uns zwischen verkrüppelten Birken und dichten Dornbüschen verlaufen. Super, auf einem Berg mitten im tibetischen Hochland verlorenzugehen, davon habe ich schon immer geträumt. Es dauert eine knappe Stunde, bis ausgerechnet ich den Weg wiederfinde. Natürlich bin ich stolz, aber auch besorgt. Ich hoffe inständig, dass ich auf dieser Fahrt nie wirklich auf meinen Führer angewiesen sein werde.
Immerhin erfahre ich auf dieser Wanderung erstmals etwas mehr über Bart. Auslöser ist eine Formulierung. «Ich glaube, der Weg liegt drei Uhr», gibt er bei der Suche als Positionsvermutung an. «Drei Uhr? Hast du das bei der Volksbefreiungsarmee gelernt?» – «Ich war nicht bei Armee», sagt Bart. «Was?», entfährt es mir. «Ich denke, es gibt in China Wehrpflicht?» – «Sie haben zu viele Leute. Wenn man nicht will, muss man nicht hin.» – «Nicht zu fassen. Weißt du, dass ich wegen der chinesischen Kommunistischen Partei zur deutschen Armee gegangen bin?» Das weiß Bart natürlich nicht, und also erzähle ich dem jungen Mann nicht nur, dass ich einst ein Maoist war, sondern erkläre ihm auch die Drei-Welten-Theorie der KP China von ungefähr 1975. Damals zerfiel die Welt nach Meinung der Chinesen in drei Teile: die erste Welt, die aus den beiden Supermächten USA und Sowjetunion bestand, die zweite, zu der ganz Europa, Kanada und Japan gehörten, und die klassische dritte Welt, als deren Führerin sich die Volksrepublik China wähnte. «Die Sowjetunion», erkläre ich dem erstaunten Bart, «galt damals eurer Führung als die gefährlichere und aggressivere Supermacht, die USA wähnte man nach dem verlorenen Vietnamkrieg auf dem absteigenden Ast. In Peking war man davon überzeugt, dass die Sowjetunion den Dritten Weltkrieg vorbereite. Deshalb sollten sich die Völker der zweiten Welt mit denen der dritten Welt zusammentun, um gegen die Kriegsvorbereitungen was zu unternehmen.» – «Und du bist deswegen zur Armee gegangen?» – «Genau. So hatte das eure Partei befohlen. Wir deutschen Maoisten sollten unsere Armee stärken, so den Weltkrieg verhindern und wenn möglich die Weltrevolution machen. Entweder vorher oder nachher oder gleichzeitig.» Diese Idee scheint Bart sehr fremd zu sein: «Ich glaube nicht an den Kommunismus. Ich glaube an das Gute. Wenn alle Menschen Gutes tun, wird schon alles gut.» Das Gute, ach herrjemine. Was soll bloß aus China werden, wenn demnächst alle hier so drauf sind wie Bart?
Meine Sorgen um China sind sofort vergessen, als wir oben auf dem Berg stehen. Ich bin so überrascht, dass ich für einen Moment sogar vergesse zu atmen. Beim Aufstieg hatte es so ausgesehen, als würden wir auf einem schmalen, mit
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