Allein unter Deutschen: Eine Entdeckungsreise (German Edition)
regt dieser Herr ein wenig auf, und ich treibe ihn in die Enge.
Von außen betrachtet erscheint es mir so, daß Sie es einfach nicht wissen wollten, daß es Ihnen scheißegal ist, verzeihen Sie meine Ausdrucksweise. Für mich als einen Ausländer klingt das, was Sie gesagt haben, einfach entsetzlich. Verstehen Sie das?
»Ja.«
Möchten Sie noch etwas ergänzen?
»Vor einigen Jahren wurde ich wiedergeboren, und vor einigen Jahren begriff ich auch, daß ich den Augapfel Gottes beschützen muß, das jüdische Volk. Und ich versuche mein Bestes.«
Aber Sie wollen trotzdem nicht wissen, wer von den Familien Ihrer Nachbarn auf die eine oder andere Weise mit dem KZ Dachau zu tun hatte?
»Nein.«
Warum nicht?
»Ich konzentriere mich nur auf eine Sache.«
Meinen Sie das im Ernst?
»Was ich sagen will, ist, daß ich in die Zukunft schauen und nicht an die Vergangenheit denken möchte.«
Kann man vorwärtsgehen, wenn man nicht weiß, woher man kommt?
Keine Antwort. Er straft mich mit Schweigen. Vielleicht ist er ja in Wirklichkeit ein Karmeliter. In Dachau ist alles möglich.
Ich weiß auch nicht warum, vielleicht wegen all dieser Dachauer Wachtürme, die mir an die Nieren gehen, aber ich weiß, ich bin hier noch nicht fertig. Ich fasse weiter nach, versuche mein Bestes, aus diesem Mann herauszuschütteln, was immer in ihm ist, damit er es offen auf den Tisch legt, auf seinen Tisch. Ich treibe ihn in die Enge, nutze seinen Glauben als Brechstange, um an ihn heranzukommen.
Sie sind ein frommer Mensch. Dürfte ich Sie daran erinnern, daß die Bibel voll von Geschichten ist, die alle bis ins kleinste Detail …? Also zum Beispiel, in der Schöpfungsgeschichte liest man von diesem Mann, der der Sohn jenes Mannes ist, der selbst wiederum der Sohn eines anderen Mannes war, der seinerseits der Sohn … Ist das nicht so?
»Ja, das stimmt.«
Und trotzdem wollen Sie niemanden nach irgend etwas fragen, Sie wollen nur der Bibel als Ihrem Leitbild folgen. Stimmt das?
»Ja.«
Hier ist die Bibel, und sie gibt Ihnen ein Beispiel, wie man sich verhalten soll, aber Sie weigern sich. Richtig?
»Ja.«
Warum?
»Ich kann das nicht beantworten.«
Wirklich nicht?
»Nein.«
Möchten Sie eine Antwort?
»Ich weiß nicht.«
Möchten Sie es wissen?
»Vielleicht will ich es nicht wissen.«
Warum wollen Sie es nicht wissen?
»Das ist das Problem, ja.«
Und was ist die Lösung?
Jürgens Augen werden feucht. Sein Widerstand bröckelt. Der selbstsichere Mann, den ich vor gerade mal einer halben Stunde kennengelernt habe, ist jetzt ein gebrochener Mann, dessen Einzelteile unverhüllt im Hinterhof seines Hauses liegen.
»Ich schaue in den Spiegel und möchte es nicht sehen.«
Warum?
»Es ist kein schönes Bild.«
Geben Sie mir eine bessere Antwort.
»Ich werde es sein, der mich da im Spiegel anstarrt. Und ich möchte das nicht sehen!«
Diese Leute sind Sie?
»Ja.«
Die?
»Ja.«
Die sind Sie?
»Ja.«
Die Nazis.
»Ja.«
Es fällt schwer, ihm jetzt ins Gesicht zu blicken, er sieht auswie ein auf frischer Tat ertappter Verbrecher. Seine Frau, Barbara, drückt mich fest. Warum drückt sie mich? Sie sollte ihren Mann in die Arme nehmen! »Verzeihung«, sagt sie, »Verzeihung. Verzeihung für das, was wir Ihrem Volk angetan haben. Verzeihung.«
Wir sind hier in Deutschland. Wir berichten aus Dachau, der Stadt.
Während ich Dachau verlasse, will mir dieses »Motto« nicht aus dem Kopf gehen: »Es gibt einen Weg zur Freiheit. Seine Meilensteine heißen: Gehorsam, Fleiß, Ehrlichkeit, Ordnung, Sauberkeit, Nüchternheit, Wahrhaftigkeit, Opfersinn und Liebe zum Vaterland!«
Glauben Sie wirklich, Rabbi Helmut Schmidt, daß das alles in fünfundzwanzighundert Jahren vergessen sein wird? Es geht hier nicht nur darum, daß Menschen getötet wurden, Rabbi Helmut. Sondern wie es gemacht wurde. Nie wird irgend jemand »besser« morden. Niemals. Oder auch nur so zynisch.
Mörder, Mörder überall.
Und kein Mörder zu sehen.
Ich bräuchte jetzt meinen Halb und Halb, Giovanni di Lorenzo. Wir haben etwas zu besprechen. Aber Giovanni ist eine halbe Welt weit weg. Er ist im Norden unseres deutschen Planeten, ich im Süden.
Aus praktischen Gründen beschließe ich, mir lieber einen Juden zu suchen. 9000 in der orthodoxen Gemeinde Münchens, da muß doch einer für mich dabeisein.
Juden, Juden überall …
»Fleiß« zahlt sich aus, und ich bekomme meinen Juden:Jacques Cohen von Cohen’s jüdischem Restaurant, das 1960 eröffnet
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