Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Allein unter Deutschen: Eine Entdeckungsreise (German Edition)

Allein unter Deutschen: Eine Entdeckungsreise (German Edition)

Titel: Allein unter Deutschen: Eine Entdeckungsreise (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tuvia Tenenbom
Vom Netzwerk:
daß mich zwei Tische weiter ein altes Paar unentwegt anstarrt. Wer sind sie? Kenne ich sie?
    Kurz darauf fängt die Frau meine Begleiterin auf dem Weg zur Toilette ab und vertraut ihr an, daß ihr Mann alles über Deutschland wisse. Er lebe seit seiner Geburt hier und werde hier auch sterben. Als ich das erfahre, denke ich, das könnte genau der Mann sein, den ich suche. Ich will ihn auf der Stelle interviewen, doch seine Frau ist dagegen. Dieses Restaurant ist einer der Lieblingsorte ihres Mannes, erklärt sie, und sein Inhaber hört gerne einmal mit, was an den Tischen so gesprochen wird. In diesem Fall aber wäre ihr Mann danach in diesem Haus nicht mehr willkommen.
    Ich schlage daher vor, das Gespräch an einem anderen Ort zu führen.

Kapitel 16   In dem ein alter Jude seinen Gedanken, eine junge Dame ihren Küssen und eine deutsche Band ihrem englischen Liedgut freien Lauf lassen, während die Linken den Reiz einer Siedlungsbewegung für sich entdecken
    Wir treffen uns in der Bar des Park Inn Hotels am Alexanderplatz, dessen Inhaber anscheinend weniger die Ohren spitzt. Er kommt alleine, ohne seine Frau, und beginnt zu erzählen. Er heißt Herr Lippmann und ist 82 Jahre alt. Obwohl ich nichts über ihn weiß, ist er mir gleich sympathisch, und ich möchte mehr über ihn erfahren.
    »Meine Eltern sind in Auschwitz«, sagt er, als ich ihn bitte, mir von seiner Familie zu erzählen. Sie wurden 1943 deportiert, mit dem »letzten Judentransport aus Berlin. Wir erfuhren erst nach dem Krieg, daß sie die Juden ermordeten.« Über zwei Jahre hielt er sich versteckt und schaffte es so zu überleben. Als der Krieg zu Ende war, verließ er Deutschland nicht. »Nach dem Krieg war alles billig hier.«
    Das war der Grund? Deshalb sind Sie hiergeblieben, aus finanziellen Gründen?
    »Nein. Nach dem Krieg war es in Deutschland ein leichtes, mit Mädchen auszugehen.«
    Von denen es so viele gab, während Männer eher rar waren.
    Über das heutige Deutschland sagt Herr Lippmann: »Die Deutschen sind antisemitisch. Ich weiß es, ich lebe hier.«
    Warum sind sie antisemitisch?
    »Es steckt in ihnen. Die Menschen haben Anlagen, zum Beispiel eine Anlage zur Furcht. Warum? Es steckt einfach in ihnen. Und die Deutschen tragen den Antisemitismus in sich. Er ist in ihnen. Aber ich werde dieses Land nicht verlassen, ich bin hier geboren.«
    Herr Lippmann hat keine Kinder. »Ich wollte keine Kinder in diese Welt setzen.«
    Bevor ich nach Deutschland kam, hatte ich keine Ahnung, wie kompliziert und komplex dieses Land ist.
    Ich ziehe weiter. Ich bin mit Holger Franke verabredet, der 1972 in Berlin das berühmte Theater Rote Grütze gegründet hat. Er möchte nicht, daß Deutschland die WM gewinnt, da dies der gegenwärtigen Regierung nützen würde, die Holger für eine Katastrophe hält.
    Sollte vielleicht, sagen wir, Nordkorea die WM gewinnen?
    »Es wäre schön, wenn Nordkorea die WM gewinnen könnte, aber die sind ja schon ausgeschieden.«
    Ah ja. Welcher Partei steht er nahe?
    »Ich habe für Die Linke gestimmt.«
    Dann gesteht er mir, nach kurzem Nachdenken, eine Sünde:
    »Wenn ich ein Spiel sehe, dann wünsche ich mir in diesem Moment von Herzen, daß Deutschland gewinnt.«
    Was empfanden Sie, als die Leute nach dem deutschen Sieg auf den Straßen »Deutschland!« riefen und sangen?
    »Ich habe mich geschämt. Ich finde die deutsche Flagge nicht gerade erotisch.«
    Holger sollte sich mit Erotik auskennen. Der Grundgedanke bei seinem Theater war, daß man sich der Erotik öffnen, »die Erotik zu einem Teil der öffentlichen Diskussion machen müsse«. Sein Theater wurde fast über Nacht zum Erfolg, und zwar aus genau diesem Grund.
    Ich bin sehr für offene Erotik. Ich bitte Ricky, Holgers Frau, die 30 Jahre jünger ist als er, sich zu öffnen und mir zu erzählen, was sich in ihrem Schlafzimmer so abspielt.
    »Mein Mann hat einen sexy Hintern, den ich jeden Morgen küsse«, verrät Ricky. »Drei Tage nach unserer ersten Begegnung hatten wir Sex. Er war damals mit einer wunderbaren Sängerin verheiratet, aber ich saß neben ihm, wir hielten uns an der Hand, und ich sah die Sterne in seinem Gesicht. Wir saßen auf der Terrasse, es war Vollmond, und ich sagte zu ihm: ›Das ist Liebe.‹ Seine Frau war zu der Zeit nicht zu Hause. Holgers Tochter hatte einen Wohnwagen draußen, und da gingen wir hin. Wir machten die Tür zu, und –«
    Holger unterbricht: »Es war keine Affäre, es war Liebe. Für meine Frau war es der Horror, für

Weitere Kostenlose Bücher