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Allein unter Deutschen: Eine Entdeckungsreise (German Edition)

Allein unter Deutschen: Eine Entdeckungsreise (German Edition)

Titel: Allein unter Deutschen: Eine Entdeckungsreise (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tuvia Tenenbom
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Deutscher.
    Habe ich alles richtig verstanden? Keine Ahnung. Leider habe ich auch keine Zeit, darüber nachzudenken, denn in wenigen Minuten spielt Deutschland gegen England, und das muß ich sehen.
    20 Millionen Deutsche bevölkern die sogenannte »Fanmeile« in Berlin, als die deutsche Fußballnationalmannschaft auf die englische trifft. Verbürgen kann ich mich nicht für diese Zahl, aber ich persönlich habe in meinem Leben noch nie so viele Menschen auf einem Fleck gesehen. Dagegen war der Roßmarkt eine Bushaltestelle.
    Und nun schaut euch mal an, was hier los ist. Als das 3 : 1 für die deutsche Mannschaft fällt, schießen Bierfontänen empor. Die Menschen sind so begeistert, daß sie den Himmel über Berlin mit ihrem Bier begießen. Sie springen, sie singen, und sie brüllen aus voller Lunge: »Deutschland!« Lustig, inmitten der 20 oder 50 Millionen Deutschen hier fallen mir drei Araber auf, die ganz in meiner Nähe stehen. Wie Mohammed und der Berg: Wenn ich nicht zu ihnen komme, kommen sie zu mir.
    Doch sie sind im Aufbruch. »Halas«, sagen sie zueinander.
    Halas? frage ich.
    »Halas«, sagen sie. »Wir gehen.«
    Warum?
    »Deutschland gewinnt«, antworten sie niedergeschmettert.
    Sie gehen. Und Deutschland schießt noch ein Tor.
    Das war’s. Die Menschenmenge ist im siebten Himmel.
    Als das Spiel aus ist und alle – einschließlich meiner Wenigkeit – »Deutschland!« singen, bahne ich mir einen Weg nach draußen. Ich versuche, der Menge zu folgen. Was gar nicht so leicht ist, da alle in verschiedene Richtungen strömen. Ich nehme die Yitzhak-Rabin-Straße – ja, so etwas gibt es in Berlin, kein Scherz – und gehe an Dem deutschen Volke vorbei. Ungelogen, es gibt ein berühmtes Gebäude hier, auf dem das steht, es ist der Reichstag. Ich will zum Hauptbahnhof.
    Von dort aus fahre ich zum Rosa-Luxemburg-Platz. An diesem Wochenende findet an der Volksbühne nämlich eine Veranstaltung mit dem Titel »Idee des Kommunismus« statt. Und da ich gerade einige Anhänger der Linken kennengelernt habe, möchte ich sie besser verstehen. Wenn es gut gemacht ist, kann uns das Theater erklären, was mit Logik allein nicht zu begreifen ist.
    Ich bin bereit. Heute wird im Rahmen der Kommunismuskonferenz Bertolt Brechts Lehrstück in der Regie von Frank Castorf aufgeführt. Wie man mir gesteckt hat, ist Castorf der am zweitbesten bezahlte Regisseur der Stadt; er muß also etwas draufhaben.
    Das Stück beginnt.
    Rund 20 Schauspielerinnen und Schauspieler stehen auf der Bühne. Sie alle singen. Dann brüllen alle. Als sich der Effekt des bloßen Brüllens verbraucht hat, zertrümmern sie Stühle und reißen Kissen in Fetzen. Nachdem sie damit fertig sind, wird ein ausgestopfter Mann auf die Bühne gebracht und von zwei Akteuren, die ihn ebenfalls anbrüllen, erstochen. Ein Sadist hätte an dieser Inszenierung seine Freude. Und niemand wüßte um seinen Sadismus, da es sich hierbei ja um Kultur handelt. Clever, oder? Dann kommt plötzlich eine Darstellerin von ganz links auf die Bühne, verkündet, daß sie eine Jüdin ist, und wendet sich auf hebräisch ans Publikum. Sie rezitiert ein Gedicht von H. N. Bialk.
    Wie sind wir schon wieder auf »die Juden« gekommen?
    Dieses Stück hat weder Anfang noch Mitte noch Ende. Keiner der Darsteller entwickelt auch nur ansatzweise eine Persönlichkeit. Die Mimen sind allesamt ordentliche Mitglieder des Brüllvereins. Irgendwann schlafe ich ein, schrecke aberhoch, als doch tatsächlich ein Schauspieler auf mich zukommt und mich aufweckt. Mit aufgerissenen Augen und aufgesperrten Ohren verfolge ich, wie ein weiterer Akteur lautstark aus Lenins Werken rezitiert.
    Ja, klar. Dieses Stück ist schließlich Teil der Kommunismuskonferenz.
    Hat es aber wirklich irgend etwas mit Kommunismus zu tun? Nein. Mit Kunst? Auch nicht. Mit was dann, außer mit Sadismus? Da soll einer schlau draus werden! Nicht, daß sich nicht auch hier ein paar Geistesblitze fänden, doch, herrje, alles übrige! Unterm Strich ist das Stück am besten als ein Voice-Over-Kurs für Kinder zu verstehen. Seine einzige Leistung besteht darin, Menschen als brutal, idiotisch, maschinenhaft und häßlich zu zeigen. War das die Absicht?
    In der Theaterlobby kann man sich ein Gratispäckchen Streichhölzer mitnehmen, auf dem in grünen Großbuchstaben ein Wort steht: Castorf.
    Der Mann muß sich für den lieben Gott halten.
    Als ich das Theater verlasse, ist mein Kopf leerer als zuvor. Ich laufe durch die Straßen von

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