Allein unter Deutschen: Eine Entdeckungsreise (German Edition)
mich war es schrecklich, weil ich mich zwischen meiner Frau und meiner Geliebten entscheiden mußte. Ich liebte meine Frau, aber mit Ricky war es wie ein Traum, ein Traum, der wie in einer Blase in mir geschlummert hatte und plötzlich aufgeplatzt und Wirklichkeit geworden war. Wir waren wie zwei Kinder.«
Gut, Holger, aber was geschah, nachdem Sie und Ricky die Tür des Wohnwagens zugemacht hatten?
Holger: »Möchten Sie vielleicht einen Rotwein?«
Wohl glaubt er an die erotische Offenheit und predigt sie. Aber zu predigen und auch danach zu handeln, ist zweierlei. Holger hat viele Jahre damit verbracht, die Botschaft zu lehren und zu propagieren, aber irgendwie dabei vergessen, sie auf sich selbst zu beziehen.
Holger ist mit seinen 68 Jahren alles andere als ein Dummkopf. Er sieht die Kluft zwischen seinen jahrzehntealten Lehren und dem, was er meiner Wenigkeit in den vergangenen zehn Minuten erzählt bzw. nicht erzählt hat. Also lädt er mich zu einem kleinen Spaziergang in die wunderschöne Umgebung ein. Tief im Innern hofft Holger wohl, daß ich ihn dann nicht mehr nach seinem Sexualleben befrage.
Nicht weit von Holgers Haus befindet sich eine Wohnwagenstadt.
Auf einem schmalen Streifen Niemandsland zwischen Ost- und Westberlin ist ein kleiner Wohnwagenkiez entstanden. Gegründet von jungen Menschen mit einem Hang zu alternativen Lebensformen, haben diese Landbesetzer entschieden, daß ein Niemandsland ihr Land ist. Sie leben in kleinen, ziemlich primitiv wirkenden Bauten – nicht unähnlich jenen der jüdischen Siedler in den Anfangstagen der Siedlungsbewegung im Westjordanland. Und wie ihre Brüder im Nahen Osten haben auch die Menschen hier ein politisches Anliegen, nämlich ökologisch zu leben. Sie hängen nicht am Stromnetz, da sie allesamt Solaranlagen haben, die sie mit Strom versorgen. Es gibt kein fließend Wasser. Und sie haben bestimmte Bäume angepflanzt. Darüber hinaus pflegen sie eine gewisse Gemeinschaftskultur. Heute zum Beispiel gibt es eine Musikaufführung. Als die Darbietung beendet ist, applaudieren, welch Überraschung, die Beteiligten.
Was sind das für Wesen?
Franziska – oder kurz Franzi – ist eine große Blonde mit einem Dauerlächeln. Ihr Vater, erzählt sie mir, ist Philosoph und Psychologe; ihre Mutter arbeitet in der Pharmaindustrie. Arm sieht diese Frau nicht gerade aus. Trotzdem hat sie sich entschlossen, mietfrei zu wohnen.
Nehmen Sie ab und zu mal eine Dusche?
»Ja.«
Und wo?
»In einem Schwimmbad nicht weit von hier.«
Jedesmal, wenn Sie duschen wollen, gehen Sie ins Schwimmbad?
»Die Leute hier in der Gegend kennen mich schon. Wenn sie sehen, daß ich mit einem Handtuch unterwegs bin, laden sie mich auch mal zu sich nach Hause ein.«
Wie sind Sie hierhergekommen? Ich meine, könnte ich auch mitmachen und einziehen?
»Ich habe mit dieser Gemeinschaft gearbeitet und für anderthalb Jahre ausgeholfen, bevor ich eingezogen bin.«
Gibt es hier eine gesellschaftliche Struktur, eine Art Boß?
»Derjenige von uns, der am längsten hier ist, hat das letzte Wort, wenn wir nicht zu einer gemeinsamen Entscheidung kommen.«
Da haben wir’s. Noch so ein Verein .
Sie zeigt mir ihr Domizil, einen Holzbau auf Rädern. Ein heimeliger Ort und sorgfältig konstruiert. Hat sie das selbst gebaut? Ja. Sie ist Architektin. Und sie ist auch eine »Anhängerin der Linken«.
»Ich wuchs mit einem Haß auf dieses Land auf«, sagt sie mir.
Linksparteianhänger, wohin man schaut.
Ist dieses Deutschland hier dasselbe wie das im Süden, frage ich mich.
Nun, eines ist schon mal sicher: Die trinken hier mehr oder weniger wie die Bayern. Man sieht es an der Menge leerer Bierflaschen zwischen den Wohnwagen.
Es gibt aber noch weitere Gemeinsamkeiten: Die Studenten, die ich in München traf, wollten kostenlose Hochschulbildung; diese Siedler hier wollen kostenlose Unterkünfte.
Was ich bisher weiß, ist mithin folgendes: Fordere freies Wohnen und freie Bildung, trinke kistenweise Bier, sei Mitglied in irgendeinem Verein, sei politisch korrekt, verurteile Israel, iß bio, sei pünktlich, begehre deines Nächsten iPad, brülle »Deutschland!« oder sei für Nordkorea, kümmere dich entweder nicht darum, was deine Familie während des Kriegs gemacht hat, oder bezeichne dich als jüdisch, sei sehr sauber oder sehr verdreckt, nimm an der einen oder anderen Demonstration teil, diskutiere jedes Detail jeder Frage, bis deinem Gegenüber der Schädel brummt – und du bist ein
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