Alleingang: Kriminalroman (German Edition)
sie glaubten an so etwas. Erfahrungswerte waren die einzigen Werte, die wirklich verlässlich waren.
Aber wer hatte schon Erfahrungswerte im Umgang mit Kriegswaisen?
Die Frauen, die sie kannte, hatten zwar Kinder, aber keine Männer in Afghanistan. Und die Frauen, die Männer in Afghanistan hatten, also die aufgekratzten Soldatenfrauen, die sie auf dem Kaffeeklatsch in Neubrandenburg kennengelernt hatte, waren nicht die Gesprächspartner, die sie jetzt brauchte. Sie brauchte einen … Fachmann. Einen Psychologen. Oder einen Seelsorger.
Der Mann, der in der Nacht vor ihrem Haus im Auto übernachtet hatte. Gunter Theobald, der neue Pfarrer von Koserow.
Sie suchte die Visitenkarte, die er ihr hiergelassen hatte. Marie legte so etwas immer in den Brotkorb. Dort war sie nicht. Jetzt rächte sich ihre Unordnung. Sie suchte im Flur, dann wieder in der Küche. Die Karte von Gunter lag auch nicht in dem metallenen Obstkorb. Dort lag eine unbezahlte Rechnung für die Schulfotos von Felix. Wie kam sie bloß dahin?
Wo hatte er ihr die Karte denn gegeben? Richtig. Beim Hinausgehen. Im Flur.
Auf der Ablage der Garderobe lag das Mathebuch von Felix. Darunter fand sich die Karte des Geistlichen.
Indem sie ihr Ohr gegen die Tür vom Kinderzimmer drückte, versicherte Marie sich, dass Felix beschäftigt war. Dann wählte sie die Handynummer von Gunter.
Es lief ein Band.
Sie brauchte ihn jetzt. Nicht morgen oder übermorgen.
Das Büro der Kirchengemeinde. Dort saß die alte Frau Beetzow, eine gehbehinderte Freundin der Nachbarin Hinrichsen, und wartete auf Anrufe von Leuten, die etwas vom Pfarrer wollten. Die Nummer stand immer im Gemeindeboten. Aber wo war der Gemeindebote?
Das gelbliche Faltblatt mit den ungelenken Anzeigen örtlicher Geschäfte und den Nachrichten der Gemeindeverwaltung musste unter den alten Zeitungen im Flur sein – seit Karl weg war, achtete Marie noch weniger auf Ordnung in dem kleinen Haus. Als sie die Ostsee-Zeitungen durchwühlte, wehte Staub auf und sie musste niesen. Das Gemeindeblatt war nicht dabei.
Marie suchte wieder in der Küche – und wurde in der Eckbank fündig, in der all der Kram verschwand, der ihr gerade im Wege war. Doch die Telefonnummer stand nicht – wie sonst – auf der letzten Seite. Sie blätterte das mit Fettflecken verzierte Blättchen durch. Die monotonen Vereinsmeldungen deprimierten sie immer, wenn sie etwas suchte. Dann – diesmal auf der vorletzten Seite – war da die Rubrik der Kirchengemeinde. Marie musste sich anstrengen, um die winzige Nummer lesen zu können.
Frau Beetzow war sofort dran. »Büro der Kirchengemeinde Koserow. Guten Tag.«
»Frau Beetzow, hier ist Marie Blau.«
Die alte Frau überlegte. »Ach, die Mutter vom kleinen Felix.« Sie wusste, dass der Junge oft bei ihrer Freundin, Frau Hinrichsen, war.
»Ja, genau. Ich hab da ein Problem.« Auf keinen Fall wollte sie der Alten am Telefon etwas von Karls Tod erzählen. Aber mit welcher Begründung fragte sie nach der Nummer des neuen Pfarrers? Marie ging nicht in die Kirche, und jedermann im Dorf wusste, dass ihr Mann in Afghanistan war. Das würde einigen Klatsch auslösen. Warum fragte ausgerechnet sie als Erste nach der Nummer des neuen Pfarrers?
»Kann ich Ihnen vielleicht helfen, Frau Blau?« Die alte Beetzow klang wie eine professionelle Telefonseelsorgerin. Etwas, was sie, wie Marie wusste, aufgrund ihrer allseits bekannten Schwatzsucht niemals sein würde.
Marie zögerte. Dann fiel ihr ein, dass der neue Geistliche ja nicht nur ihr einen Hausbesuch abgestattet hatte, sondern allen Gemeindemitgliedern. »Es geht um den neuen Pfarrer. Er war gestern bei mir und hat seinen Schal vergessen.« Einen Schal? Im September?
»Ich verstehe nicht …«
Die Alte war auch noch schwerhörig. Wieso setzten sie nicht eine junge Frau ans Telefon der Kirchengemeinde? Es gab genug, die Arbeit suchten.
»Der neue Pfarrer. Er hat seinen Schal bei mir vergessen.« Marie fürchtete, dass die Beetzow das noch nicht als Grund für die Herausgabe der persönlichen Telefonnummer ansehen könnte. Dann würde es schwierig werden.
»Welcher neue Pfarrer?«
»Der, der gestern seine Runde im Ort gemacht hat. Ich glaube, er heißt Theobald.«
»Theobald?«
»Ja, Gunter Theobald.«
Die Alte atmete angestrengt. »Frau Blau, wir haben hier keinen Herrn Theobald. Wir haben auch keinen neuen Pfarrer. Der, den wir haben, wird hoffentlich noch viele Jahre bleiben.«
Felix war mit den Hausaufgaben fertig. Er hatte
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