Alleingang: Kriminalroman (German Edition)
habe keine Zeit. Ich muss weg.«
»Es ist wichtig.« Seine Hände verkrampften sich ineinander.
»Jetzt passt es nicht.« Marie trat etwas zurück und wollte die Tür schließen. Sonst war sie nie so unhöflich, aber das Verhalten dieses Menschen brachte sie durcheinander.
Er legte seine Linke gegen die Tür. »Sie müssen mich reinlassen. Es ist …« Er flehte geradezu.
»Wenn Sie nicht sofort gehen, rufe ich die Polizei.«
Er ließ die Tür los und wich zurück.
Marie drückte die Tür ins Schloss. Sie atmete auf. Aber sie blieb stehen. Sie wollte sicher sein, dass der Mann auch ging. Durch das Milchglas sah sie, dass er sich nicht rührte.
»Gehen Sie!«, sagte sie laut. »Ich habe eine Alarmanlage.« Das war gelogen, aber Marie fand, dass es eine gute Lüge war. »Wenn Sie nicht sofort verschwinden, stelle ich die Alarmanlage an.«
Der Mann stand immer noch bewegungslos vor der Tür. Oder sah das nur durch das Milchglas so aus?
»Hören Sie nicht? Ich stelle die Alarmanlage an. In vier Minuten ist die Polizei da!«
Sie tat so, als strecke sie den rechten Arm aus, um einen Knopf neben der Tür zu bedienen. Sie hoffte, dass das durch die Glasscheibe zu sehen war.
Lange konnte sie diesen Bluff nicht durchhalten.
Wenn er jetzt nicht verschwindet, gehe ich hoch und hole die Pistole, dachte sie. Sie konnte damit umgehen. Karl hatte es ihr gezeigt. Es würde genügen, um dem Kerl Angst zu machen. Wenn nicht, würde sie ihm ins Knie schießen. Marie war entschlossen, sich und ihren Sohn zu verteidigen. Genau – wenn er nicht verschwand, würde sie ihm durch die Glasscheibe ins Knie schießen. Deshalb hatte Karl ihr die Waffe dagelassen. Damit sie sich wehrte, wenn einer kam und sie und den Jungen bedrohte.
Der Mann hob den Arm. Durch das Milchglas verzögerte sich die Bewegung ruckartig wie in einem alten Schwarz-Weiß-Film. Er streckte sich.
Dann ertönte die Klingel. Marie schreckte zusammen, damit hatte sie nicht gerechnet. Obwohl das doch naheliegend war.
Sie wurde wütend. Im Nu war sie im oberen Stockwerk und riss die Schublade auf. Die Waffe lag unter Karls Socken. Sie war nicht geladen. Marie dauerte es zu lange, die Patronen aus der daneben liegenden Packung zu ziehen und sie in das Magazin zu stecken. Sie nahm die Munition in die Linke, die Pistole in die Rechte und lief hinunter.
Der Kerl stand immer noch vor der Tür.
Marie riss die Packung auf und fingerte zwei Patronen heraus. Die Packung fiel hin. Egal. Zwei Schüsse genügten. Der Mann hatte ja auch nur zwei Knie.
Marie öffnete das Magazin und steckte die Patronen hinein. Es ging besser, als sie dachte. Sie schloss das Magazin. Dann entsicherte sie die Waffe. Genauso hatte Karl es ihr gezeigt.
Sie umschloss den Knauf mit beiden Händen. Der rechte Zeigefinger lag über dem Abzugsbügel. Marie wusste, dass nur ein ganz leichter Druck genügte. Es war eine sehr gute Waffe. Man musste damit bedächtig umgehen.
Sie zielte auf das rechte Knie des Mannes. Durch die Glasscheibe.
»Gehen Sie oder es geschieht etwas Schreckliches!« Einen Augenblick dachte sie: Bin ich das, ziele ich wirklich auf diesen Menschen?
Der Mann rührte sich nicht.
»Hören Sie, ich habe eine Waffe. Ich schieße damit, wenn Sie nicht verschwinden.«
Der Mann schien zu schrumpfen. Marie brauchte eine Weile, bis sie verstand, dass er ein, zwei Schritte zurückgetreten war. Also doch. Sie ließ die Waffe sinken.
Plötzlich war er wieder da. Er schlug mit der Handfläche gegen die Milchglasscheibe. Das Fleisch seiner Hand sah dabei seltsam weiß und nackt aus, fast obszön.
Marie hob erneut die Waffe. Jetzt würde sie schießen. Der Kerl war verrückt.
Sie streckte beide Arme.
»Lassen Sie mich rein!«, flehte er. Es klang jämmerlich. Und dann: »Ich komme aus Kundus. Ich bin ein Freund von Karl.«
Das mit der Pistole war Marie peinlich. Sie hatte sie gesichert und schnell im Schuhschrank verschwinden lassen. Bevor Felix kam, musste sie wieder an ihren Platz in der Schublade mit Karls Socken.
Nun saßen sie im Wohnzimmer und tranken Tee. Marie war verlegen, Gunter aber auch.
Sie sprachen beide leise und ohne Eile. So, als müssten sie sich erst von einer großen Anstrengung erholen.
Gunter Theobald war Militärgeistlicher in Kundus gewesen. Dort hatte er sich auch mit Karl angefreundet. So viel hatte Marie schon von ihm erfahren.
»Karl war sehr verschlossen. Es dauerte ein paar Wochen, bis er zu erzählen begann. Er hat viel über Sie und den Jungen
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