Alleingang: Kriminalroman (German Edition)
trug eine etwas altmodische Brille mit breitem Rand und eine zerknitterte braune Tweed-Jacke. Er sah aus wie ein Archivar oder ein Buchhändler. Doch Marie glaubte, sich daran erinnern zu können, dass er schon mehrmals in den Nachrichten zu sehen gewesen war, wenn es um Afghanistan ging.
Der Zivilist tat so, als überraschte ihn der Besuch. Er kam um den Schreibtisch herum, stürzte auf Marie zu und drückte ihr ergriffen die Hand. »Mein herzliches Beileid, Frau Blau.«
Dann beugte er sich zu Felix herunter und sagte: »Auch für dich.«
»Warum trägst du keine Uniform?«, fragte Felix ungeniert.
»Weil ich kein Soldat bin.« Er streckte sich so langsam, als hätte er Rückenschmerzen.
»Und was machst du dann hier?«
Der Mann warf Marie einen flehenden Blick zu. Offensichtlich erwartete er, dass sie den Jungen bremste. Aber sie dachte nicht daran.
»Ich bin hierhergeschickt worden, damit die Soldaten auch das machen, was die Politiker wollen.«
Felix sah ihn groß an. »Aber du hast meinem Vater nichts zu sagen!«
Der Mann wandte sich an Marie. »Wie war die Reise? Hat alles gut geklappt?«
Felix zupfte an Maries Ärmel.
»Ja, danke für den Fahrdienst«, antwortete sie artig, obwohl sie nicht wusste, was an einer Fahrt von Usedom nach Berlin so schwierig sein sollte.
»Keine Ursache. Mein Name ist Seelmann. Ich bin der zuständige Staatssekretär. Wenn Sie vielleicht etwas essen oder trinken möchten …«
Marie schüttelte den Kopf.
»Ich möchte eine Limo«, sagte Felix.
Seelmann ging zum Telefon, drückte einen Knopf und bestellte eine Limo.
»Die Feierstunde beginnt in einer halben Stunde. Die anderen Hinterbliebenen sind schon in der Halle versammelt.«
Jetzt erst fiel Marie ein, dass sie Karls Schwester hätte anrufen müssen. Seine Eltern waren schon seit ein paar Jahren tot. Sonst gab es keine Verwandten mehr. Mit der Schwester hatte Karl in den letzten Jahren keinen Kontakt gehabt – es hatte irgendein Zerwürfnis wegen des Erbes gegeben.
Marie hatte vergessen, sie zu informieren. Einfach vergessen. Sie würde es nachholen. Das nahm sie sich fest vor. Die Schwester kannte sie sowieso nur aus Karls Erzählungen – und die waren nicht sehr vorteilhaft für sie gewesen. Aber so viel wusste Marie: Die Schwester hätte nicht zu der Feier nach Berlin kommen wollen. Insofern war es kein Beinbruch.
»Mir war daran gelegen, vorher noch kurz mit Ihnen zu sprechen. Natürlich vor allem, um Ihnen zu sagen, dass es uns sehr leidtut. Ihr Mann war ein guter Soldat. Dass er umgekommen ist …«
»Mein Vater ist nicht tot«, sagte Felix in dem gleichen Ton, in dem er um eine Limonade gebeten hatte.
Seelmann schaute Marie groß an. Marie zuckte mit den Achseln. Sie sah keinen Grund, dem Staatssekretär Felix’ Verhalten zu erklären. Im Übrigen hätte sie auch nicht gewusst, wie sie das hätte tun sollen.
Seelmann hatte den Faden verloren. Er stürzte zum Telefon und brüllte in den Hörer: »Wo bleibt denn nun die Limo?«
»Am liebsten Fanta«, sagte Felix.
»Am liebsten Fanta«, sagte auch der Staatssekretär.
Als er aufgelegt hatte, musste er sich erst sammeln. Dann wandte er sich wieder Marie zu: »Was ich Ihnen noch sagen wollte, Frau Blau: Sie können sich jederzeit und mit allem an uns wenden. Wenn Sie etwas brauchen oder wenn es Probleme geben sollte – rufen Sie hier an.« Da fiel ihm etwas ein. »Oder noch besser: Rufen Sie im Familienbetreuungszentrum an. Die sind da einfach näher dran. Welches FBZ ist denn für Sie zuständig?«
»Neubrandenburg.«
»Ist ja fein. Aber wie gesagt: In Ihrem Fall bin auch ich immer für Sie da.«
›In ihrem Fall‹. Das klang wie eine ungeschickte Annäherung. Marie verstand nicht, was Seelmann eigentlich von ihr wollte.
Er trat auf sie zu und beugte sich leicht zu ihr herab. »Und noch etwas, Frau Blau. Ich muss Sie warnen.«
»Warnen? Wovor denn?«
Seelmann streckte sich und nickte so gewichtig, dass ihm die Brille auf die Nasenspitze rutschte. »Es geht um Herrn Theobald. Gunter Theobald. Sie kennen ihn doch, oder?«
Marie war hellwach. Was hatte das zu bedeuten? »Ja, ich kenne ihn.«
»Soweit ich weiß, hat er Sie aufgesucht …«
»Ja. Vor einigen Tagen war er in Koserow.«
»Darf ich fragen, was er von Ihnen wollte?«
Es gab keinen Grund, das zu verschweigen. »Er hat mir ein Video gebracht. Von Karl. Es ist kurz vor …« Sie musste Rücksicht auf Felix nehmen. Auch wenn der sich mehr dafür interessierte, was gerade draußen im
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