Alleingang: Kriminalroman (German Edition)
konnte, dazugehörte, dass alles andere so sein musste wie immer. Felix schien sich sogar noch mehr als früher in seinen Alltag zu stürzen, die wiederkehrenden Sicherheiten seiner kleinen Welt waren noch wichtiger für ihn als vor Karls Tod. Das war etwas, was Marie verstand. Der Junge brauchte Halt.
Deshalb war sie sich nach der Szene am Strand sicher, dass Felix nicht weggelaufen war. Er hatte nicht die Flucht vor der Mutter ergriffen. Sie musste ihn nicht suchen. Wahrscheinlich saß er längst zu Hause vor dem Fernseher, als sei nichts gewesen. Das hatte auch sein Gutes.
Es war dunkel geworden. Marie sah schon von Weitem, dass im Wohnzimmerfenster das bläuliche Licht des Bildschirms flackerte. Deshalb musste sie sich auch nicht beeilen.
Der Junge sollte spüren, dass er sie mit seinen Eskapaden so leicht nicht aus der Fassung brachte. Sonst trieb er es in Zukunft noch schlimmer.
Sie bückte sich und zupfte etwas Unkraut aus den Fugen des Gehweges. Dann erst betrat sie das Haus – die Tür war nur angelehnt. Er hatte sie also erwartet. So schlimm konnte sein Furor nicht sein.
Sie hörte die Stimme einer jungen Sängerin. Sie trällerte eines der nichtssagenden Lieder, in die Kinder im Alter von Felix vernarrt waren. Wenn er sich das jetzt anhörte, war er auch noch gut gelaunt. Trotz der Szene am Strand. Marie spürte, dass wieder Wut in ihr hochkam. Doch sie verbat sich weitere Aufregungen. Sie brachte das Kind jetzt ins Bett. Sie würde ihren Sohn küssen, als sei nichts gewesen.
Marie klopfte an die offene Glastür. Als keine Antwort kam, trat sie ein.
Meistens lag Felix um diese Zeit auf dem Boden vor dem Fernseher. Obwohl Karl ihm so oft gepredigt hatte, dass das nicht gut für die Augen war.
Felix lag nicht auf dem Boden.
Marie schoss das Blut in den Kopf. Sie ging in die Küche. Vielleicht holte er sich etwas zu essen. Doch in der Küche brannte nicht mal Licht.
Marie rannte durch die Zimmer des Erdgeschosses. Nichts.
Aber Felix musste zu Hause sein. Er hatte die Tür für sie offen stehen lassen und der Fernseher lief.
Ob er sich nach oben verkrochen hatte? In sein Zimmer vielleicht.
Sie stürmte die schmale Holztreppe hoch. Marie rief seinen Namen.
Nichts.
Sie knickte um und stürzte. Mit dem nackten Schienbein schlug sie gegen eine Treppenstufe. Es tat höllisch weh. Doch sie kam sofort wieder hoch.
Oben musste sie einen Moment innehalten. Ihr Herz raste. Mein Gott, dachte sie, wenn dem Jungen etwas passiert ist. Dann bin ich ja ganz allein.
Sie stieß seine Tür auf. Das Bett war gemacht. Der Schulranzen stand gepackt neben dem Tisch. Alles war in Ordnung. Nur Felix war nicht da. Wo konnte der Junge sein? So groß war sein Vorsprung gar nicht gewesen.
Sie stürmte die Treppe hinunter. In diesem Moment wurde oben im Bad die Spülung betätigt. Marie blieb auf der Treppe stehen und griff sich an den Kopf. Natürlich. Warum war sie nicht darauf gekommen? Er ging doch immer zuerst aufs Klo, wenn er vom Meer kam. Das Wasser regte seine Blase an. Das war bei vielen Menschen so. Eigentlich hätte sie das wissen müssen. Sie schaute an sich herunter. Das Schienbein blutete. Sie rieb das Blut mit der flachen Hand ab. Das musste er nicht gleich sehen. Er musste überhaupt nicht wissen, in welche Aufregung er sie versetzt hatte.
Felix erschien in der Badezimmertür. Er hatte das Telefon in der Hand. Während er mit einer Hand seinen Gürtel schloss, sprach er in das Telefon. »Auf Wiederhören.«
Felix hatte gesprochen.
Der Junge hatte gesprochen. Am Telefon. Als ob nichts geschehen wäre.
Marie hätte ihn am liebsten umarmt. Aber sie stand wie angewurzelt da und starrte ihn an, wie er aus dem Bad kam, mit dem Telefon. Wie immer.
Er drückte den grünen Knopf. Das Gespräch war damit beendet.
Dann sah er sie. Er lächelte. So wie man lächelt, wenn man jemanden hereingelegt hat.
Marie fragte sich, mit wem Felix gesprochen hatte.
Hoffentlich nicht mit jemandem aus einer Redaktion. Sie hätte das Telefon abstellen müssen. Sie wollte nicht, dass er allein telefonierte. Nicht, solange diese Menschen hier anriefen und sich auf diese miese Art in ihr Leben drängten.
»Wer war dran?«, fragte sie. Als ob alles ganz normal wäre. Als ob er nie aufgehört hätte zu reden.
Er reichte ihr das Telefon. Sie sah seinen Augen an, dass etwas Unfassbares geschehen war.
Felix strahlte. »Ich wusste es: Du hast gelogen.«
»Mit wem hast du gerade gesprochen, Felix?«
»Mit Papa!«, antwortete er
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