Alleingang: Kriminalroman (German Edition)
unverantwortlich, mit dem Jungen um diese Zeit noch hier zu sitzen. »Papa kommt gar nicht mehr, Felix.« Sie drückte den Kopf des Jungen gegen ihre Brust. »Wir schaffen das schon, wir beide.«
»Was meinst du – wer lag in dem Sarg?«
Sie verstand sehr gut, was er meinte. Dennoch fragte sie: »In welchem Sarg?«
»In dem mit Papas Foto.«
Am liebsten hätte Marie jetzt geweint. »Da lag Papa drin.«
»Nein. Papa lebt. Wenn du hineingeguckt hättest, wüsstest du es auch.«
Da hatte der Junge recht.
»Wann kommt er denn jetzt wieder?« Felix zog seine Hand weg. »Ich dachte, er ist vielleicht auf der Feier …«
»Auf seiner eigenen Trauerfeier? Wenn er tot ist, kann er doch nicht …«
»Das waren seine Kameraden, die da in den Särgen lagen …« Jetzt kamen Felix die Tränen. Marie drückte ihn noch fester an sich.
Ihr Handy läutete.
Felix sprang auf: »Das ist Papa!«
Marie brauchte eine Weile, bis sie das Handy in ihrer Tasche fand. Sie meldete sich.
»Ich hoffe, ich störe nicht. Hier ist Gunter Theobald. Ich wollte mal hören, wie Sie die Trauerfeierlichkeiten überstanden haben.«
Es begann zu nieseln. Der Scheibenwischer war kaputt. Deshalb konnten sie nicht schneller als achtzig fahren.
Felix lag auf der Rückbank. Marie hatte ihren Mantel über ihn gedeckt – mit der Heizung schien auch etwas nicht in Ordnung zu sein. Dennoch war sie froh, dass Theobald angeboten hatte, sie nach Hause zu fahren.
Felix hatte gejubelt, als Theobald mit seinem roten Golf am Nordeingang des Hauptbahnhofs vorgefahren war. Marie hatte ihm noch einen Hamburger geholt, den er auf der Heimfahrt essen durfte.
Hinter Henningsdorf schlief der Junge ein. Marie war zufrieden. Sie hatte sich schon auf die halbe Nacht mit ihm auf dem zugigen Bahnhof von Angermünde sitzen sehen.
Nun würde es nur noch eine gute Stunde dauertn. Dann waren sie zu Hause, und sie konnte Felix in sein Bett legen.
Marie musterte ihren Fahrer von der Seite. Er machte einen sehr konzentrierten, sehr ernsten Eindruck. Sie hatte ihm berichtet, dass es im Verteidigungsministerium Streit gegeben und sie deshalb die Feier verlassen hatte. Gunter hatte sich damit zufrieden gegeben. Solange der Junge noch wach war und seinen Burger aß, konnten sie sowieso nicht offen reden.
»Warum hat die Bundeswehr Sie wirklich nach Hause geschickt?«
Gunters Wangenknochen bewegten sich. »Was haben die in Berlin Ihnen erzählt?«
»Dass Sie nicht entlassen worden sind, weil Ihre Dienstzeit zu Ende war. Mehr wollten sie nicht sagen.«
Gunter nickte und beugte sich übers Lenkrad. Die Sicht war schlecht. Sein Fernlicht auch.
»Es gab Meinungsverschiedenheiten. Ich konnte das da … diesen Einsatz nicht mehr mit meinem Gewissen vereinbaren.«
»Und wegen Ihres Gewissens will auch die Kirche Sie rausschmeißen?«
Gunter lachte bitter auf. »Sie kennen doch die Kirche. Die leben auf einem anderen Stern. Denen ist es egal, wie viele Kinder in Afghanistan sterben. Es sind ja keine Christen.«
Marie überraschte Gunters Sarkasmus. Bei einem Geistlichen hätte sie so etwas nicht erwartet. Sie beschloss, ihn nicht weiter zu bedrängen.
Marie hatte einen langen Tag hinter sich. Sie kauerte sich auf dem Beifahrersitz zusammen. »Sie sind die Strecke ja schon gefahren.«
Gunter schaute zu ihr herüber. »Schlafen Sie ein wenig! Ich wecke Sie, wenn wir da sind.«
Marie fand es unhöflich, jetzt einzuschlafen. Aber als sie bei Pasewalk die Autobahn verließen, wurden ihr die Augenlider so schwer, dass sie sie für ein paar Sekunden schloss.
9.
Marie erwachte, als Gunter hielt und den Motor abstellte.
Es war stockdunkel. Aber sie sah sofort, dass sie vor ihrem Hause standen.
Gunter half ihr, den schlafenden Jungen ins Haus zu tragen. Als das Licht im Flur anging, erwachte Felix und fing an zu weinen.
Marie nahm ihn an der Hand und stieg mit ihm die Treppe hinauf.
»Zähneputzen sparen wir uns heute«, flüsterte sie ihm ins Ohr, während sie ihm im dunklen Schlafzimmer aus seinen Sachen half.
»Mama«, sagte er. »Ist Papa da?«
»Nein. Es ist Gunter, er hat uns heimgefahren.«
»Geht er wieder?«
»Ja, ich koche ihm noch einen Kaffee.«
Felix drückte sich an sie. Sein Körper war kalt. Sie zog ihm den Schlafanzug über, deckte sein Bett auf und legte ihn sanft nieder. Er tastete nach seinem Kuscheltier. Sie drückte das Federbett zwischen Matratze und Bettrahmen, damit ihm schnell warm wurde. Felix rollte sich ein.
Marie spürte, dass er
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